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■ BuchtipTürkische Märchen

„Wenn der Meddah kommt“ muß nicht unbedingt die blaue Stunde sein. In Kemal Kurts türkischer Märchensammlung kommt er stets überraschend.

Zum ersten Mal erscheint der Märchenerzähler, der Meddah, den Kindern in der Pfefferminzgasse am Silvestermorgen. Erstaunt über die merkwürdige Figur mit Pluderhose, Turban und Flöte, die gegen den Autolärm kaum ankommt, hören sie sein Märchen vom Allem- Kallem-Spiel an: ein Hauch Orient mit Dschinn, guten Mädchen und ehrgeizigem Jüngling. Der seltsame Flötenspieler erscheint wieder zum Zuckerfest. Dies wird zum Ende des Fastenmonats Ramadan gefeiert. Für türkische Kinder gibt es dann ähnlich süße und andere Hochgenüsse wie für deutsche Kinder an Weihnachten oder Ostern. Das nächste Mal stellt er seinen Schemel vor dem Naturkostladen Wildreis am 23. April auf. An diesem Tag wird in der Türkei das Fest des Kindes gefeiert.

Ein ganzes Jahr mit seinen unterschiedlichen Jahreszeiten, mit seinen unterschiedlichen deutschen und türkischen Festen wird der Meddah nun den erwartungsfrohen Kindern mit seinem Bauchladen voller Märchen begegnen. Jedesmal dürfen sie einen Märchentitel daraus ziehen: „Von Osman, dem Dieb der Diebe“ oder „Sarkadscha, dem tapferen Hahn“. Und wenn es in einer Geschichte besonders drunter und drüber geht, die Mutter dem Sohn beispielsweise einen Vater gebiert, dann war dies erst eine appetitanregende Vorgeschichte, Tekeleme genannt.

Früher, so erzählt der Meddah, gab es in der Türkei viele Märchenerzähler. Sie gingen von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt. Auf Marktplätzen und in Kaffeehäusern fanden sie ihre Zuhörer. Heute sind sie verschwunden. Statt der Meddahs gibt es Radio und Fernsehen. Die Märchen werden vergessen.

Gegen das Vergessen läßt Kemal Kurt den alten Meddah noch einmal in der deutschen Großstadt wirken. Aysche, Oliver, Timor und Nalan lauschen ihm. Kurt, selbst mit türkischen Volksmärchen aufgewachsen, läßt den Meddah fabulieren. „Man kann“, so weiß dieser, „ein Märchen beliebig verlängern, in dem man noch ein Märchen und noch ein Märchen dran hängt oder viele Märchen ineinander verschachtelt.“

Oder indem man, wie Kurt, einfach eine aktuelle Rahmenhandlung einspinnt. In leicht modifizierter und frei kombinierter Form erzählt er türkische Märchen in deutschem Ambiente: in zugigen Hinterhöfen, auf lauten Straßen und harten Parkbänken. Der Meddah ist Vertreter einer längst ausgestorbenen Zunft.

Und wenn er sich doch in zugige Hinterhöfe verirrt, ist ihm eine kleine Fangemeinde von Zuhörern gewiß. Ein Liebhaberstück.Edith Kresta

Kemal Kurt: „Wenn der Meddah kommt“. Dressler Verlag, Hamburg 1995, 208 Seiten, 19,80 DM.

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