: Metropolis im märkischen Sand
Ein Rückblick und ein Ausblick auf die kulturpolitische Debatte um die neue Architektur von Berlin: Streit um die „neue Einfachheit“. Das Projekt Moderne auf der Anklagebank ■ Von Robert Kaltenbrunner
Der Wind hat sich gedreht. Mit der Neubildung des Senates und der Abberufung von Hans Stimmann als Senatsbaudirektor ist im Januar 1996 eine Periode zu Ende gegangen, die für Berlin von eminenter Bedeutung war. In den letzten fünf Jahren wurden nicht nur Fundamente für die künftige Stadtentwicklung gelegt, sondern auch das Feuer einer Debatte geschürt, die einen kulturpolitischen Schlingerkurs exemplarisch auf den Punkt bringt.
Da nun, fürs erste, der wichtigste Protagonist von der Bühne abgetreten ist, ist es Zeit für eine Rückschau – und einen Blick hinter die Kulissen. Dem Hin und Her um die neue deutsche Hauptstadt widmen sich eine Reihe von Büchern. Da sie einerseits aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln das Thema beleuchten, andererseits aber nur in ihrer Gesamtheit das Paradigma veranschaulichen, wird hier nur kursorisch auf sie eingegangen. Statt dessen sollen kurz die Grundlinien der Auseinandersetzung um das neue Berlin skizziert und ein Wort über ihre Wesensmerkmale verloren werden.
Zunächst fällt auf, daß der ominöse Gegensatz von Metropole oder Provinz leitmotivisch die Berliner Selbstbespiegelung der letzten Jahre durchzieht. Der Anspruch war klar: Eine neue Hauptstadt soll emporwachsen aus dem märkischen Sand. Aber wie ihn umsetzen in die Wirklichkeit? Im undurchschaubaren Gestrüpp der Stadtentwicklung und ihren komplexen Abhängigkeiten mußte etwas Bildhaftes her. Urplötzlich war die Architektur Treibstoff und Transmissionsriemen in einem, um den gewünschten Prozeß zu befördern. Leider aber geht es ihr wie den übrigen Künsten: Anything goes ist die Folge von everything was.
Auf die Frage, wie die neuerdings so selbstbewußte deutsche Republik sich in ihren Bauten artikuliert, wird die Antwort lauten müssen: mit einem Formenrepertoire, das den großen, kunstgeschichtlichen Epochen entliehen ist. Letztlich ist das nicht überraschend, scheint der Zeitgeist sich doch ohnehin rückwärts zu orientieren. „Der Konservativismus, der über Europa liegt“, frohlockt Wolf Jobst Siedler, „signalisiert ein neues Weltverständnis, dessen Chiffre die historische Erinnerung ist.“ So sitzt mit den aktuellen Planungen für Berlin letztlich das gesamte Projekt „Moderne“ auf der Anklagebank, und der Hauptvorwurf, der gegen sie gerichtet ist, besteht in ihrem dezidierten Antirationalismus. Offenbar wurde diese kulturpolitische Dimension bei der Auseinandersetzung um den Abriß des Palastes der Republik beziehungsweise den Wiederaufbau des Schlosses. Doch erst, als der Spiegel im November 1993 einen Aufsatz von Vittorio M. Lampugnani veröffentlichte, fühlte sich auch eine breitere Öffentlichkeit in Deutschland angesprochen. „Die Provokation des Alltäglichen“ löste eine überfällige Kontroverse aus. Mit Vehemenz stritt man plötzlich – über Berlin und die „Neue Einfachheit“.
Streitbar plädiert Lampugnani – in einem Rundumschlag gegen (fast) alle zeitgenössischen Moden – für die Rückkehr zur Normalität im Bauen. „Es muß gleichförmiger werden. Nicht im Sinne einer Abflachung, sondern einer neuen, unerschrockenen Konvention.“ Eine neue Bescheidenheit und Besinnung auf die Tradition sei für Architektur und Städtebau am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts die angemessene Haltung. Die Gleichgesinnten nickten zustimmend. Indes, die Front der Gegner formierte sich schnell. Nun ging es nicht mehr bloß um Fragen des Baustils, sondern um Einflußsphären und Aufträge, ja auch um das Gesellschaftsverständnis der Beteiligten. Unter der Rubrik „Berliner Architekturdebatte“ ging es auch politisch zur Sache!
Die Standpunkte dieser Kontroverse selbst spiegeln sich in verschiedenen Publikationen: Eine im höchsten Maße affirmative Position zur „Berlinischen Architektur“ wird in dem von Annegret Burg herausgegebenen Buch markiert. Eindeutig Stellung gegen diesen offiziösen Städtebau und das „Berliner Architekturkartell“ (um Kleihues, Kollhoff und Sawade) bezieht die Zeitschrift Arch+ mit ihrem Themenheft „Von Berlin nach Neuteutonia“. Höchst empfehlenswert, weil einerseits nüchtern-distanziert, andererseits pointiert und lesefreundlich, ist der zusammenfassende Band von Gert Kähler. Und schließlich haben vor kurzem auch die Kombattanten wieder Öl ins Feuer gegossen: Doch sowohl das Manifest von Lampugnani als auch Peter Neitzkes Kampfschrift befremden mehr, als daß sie in den Bann ziehen. Beide üben sich in Polemik, und als ultimative Grenzsetzung fungiert – bei Neitzke – der Vorwurf, die Gegenseite bewege sich in bedenklicher Nähe zum Faschismus.
Mittlerweile haben die Wogen sich zwar geglättet, und es herrscht Lethargie, ja Unsicherheit in der Stadt. Dennoch ist das Knäuel nicht aufgelöst. Heillos vermischten sich in der Hitze des Gefechtes die Ebenen: Denn für Bauwerk und Stadt gelten durchaus unterschiedliche Regeln. Durch die Debatte erweckten sie den Anschein, als seien sie identisch. Das ist der Stempel von Lampugnani. Ganz im Sinne einer „organischen“ Einheit von „Stadt, Architektur und Design“ hat er seit jeher argumentiert: „Gerade in einer Welt exponentiell verlaufender Veränderungen und ruinöser Umwälzungen muß der Entwurf sich als eine Instanz beharrlichen Widerstands behaupten. Gerade in einer pluralistischen Gesellschaft muß er wieder Konventionen vorschlagen und Gewißheiten vermitteln.“ Mit seinem Glaubenssatz von der „Modernität des Dauerhaften“ spinnt er weiter am alten Garn. „Ergebnis muß jedenfalls Schlichtheit sein, Einfachheit (...). Vielleicht wird sie sogar beunruhigend sein.“
So unrecht hat er doch gar nicht, möchte man meinen. Was soll denn schlecht daran sein, bei all dem Glamour, ein bißchen Bescheidenheit einzufordern? Und bei all den Bau- und Korruptionsskandalen solche Tugenden wie das Schlichte wieder in den Vordergrund zu rücken? „Modernität ist nicht Modernismus: Sie ist keine stilistische Entscheidung, sondern eine Befindlichkeit. Wer heute als Entwerfer arbeitet und sich dabei bewußt ist, ein Zeitgenosse dieser Befindlichkeit zu sein, kann sich ihr nicht entziehen ... Es ist ihm nicht möglich, sich als Individuum über die Kultur zu stellen.“ Es ist doch offensichtlich, so hört man raunen, der Lampugnani denkt in moralischen Kategorien!
Wäre da nicht der Umstand, daß die politischen Implikationen dieser Forderungen von niemandem aufgegriffen wurden. So bleibt am Ende die Frage offen, ob nun Bild oder Substanz gemeint sei, ob also Haus und Stadt „einfach“ sein müßten, damit sie Bescheidenheit signalisieren oder damit sie – weil kostengünstiger – möglichst vielen zugute kommen. Streitet man sich um die Ästhetik des Einfachen oder um billige Produktionsmethoden? Um sinnliche Nachvollziehbarkeit oder um Leugnung von Komplexität?
Doch hinter den ach so konträren Positionen von Lampugnani und Peter Neitzke lauern unerkannte Gemeinsamkeiten. Beispielsweise die ultimative Auf- und Überbewertung der Architektur: Bedrohungen und Katastrophen – seien sie nun technischer oder politischer Natur – werden zum Problem der Baukunst stilisiert und diese wiederum zum Heil- oder Kampfmittel überhöht. Schließlich überbietet man sich im Ausblenden von gesellschaftlichen und ökonomischen Konstellationen, kurz: von Wirklichkeit. Vereinfachungen kennzeichnen heute sowohl einen intellektuellen Konservativismus als auch einen populistischen Fundamentalismus. Übertragen auf die Architektur ist dieses im wörtlichen Sinne – reaktionär: Der geistige und emotionale Rückwärtsgang verspricht eine Aussicht auf eine Vergangenheit, die es so gar nie gegeben hat.
Die Diskussion über die „Neue Einfachheit“ hat jedenfalls, das ist festzuhalten, die tatsächliche Stadtentwicklung Berlins medial völlig überlagert. Einerseits führte das zwar zu einer bemerkenswerten öffentlichen Auseinandersetzung über Bauen und Planen, wie es bis dato bei uns unbekannt war. Andererseits aber konnten, hinter Fluchtlinie und Traufkante der Sicht entzogen, viele fragwürdige Vorhaben durchgezogen werden. Um hiervon einen visuellen Eindruck zu gewinnen, sei auf zwei Bände des Birkhäuser-Verlags („Berlin-Mitte. Die Entstehung einer urbanen Architektur“ und „Babylon, Berlin etc. Das Vokabular der europäischen Stadt“) und drei Architekturjahrbücher des Jahres 1995 (DAM, Centrum sowie „Architektur in Berlin“) hingewiesen. Sie ermöglichen allesamt einen abgeklärten Blick auf Bauten und Projekte.
Obgleich vordergründig auf der Ebene von Architektur und Städtebau geführt, ging und geht es doch auch immer um das (jeweils unterstellte) historische und gesellschaftspolitische Verständnis. Es ist dieses entschlossene Taumeln zwischen verschiedenen Sphären, das so fasziniert wie abstößt. Daß Architektur im großen Regelkreislauf der Ressourcenverwertung eine Rolle spielt, ist ja unbestritten. Aber an der tête reitet sie sicherlich nicht. Daß sich weder Postmoderne noch Dekonstruktivismus als überzeugende Alternativen für einen in die Krise geratenen, orthodoxen Begriff der Moderne erwiesen haben: dem immerhin kann man wohl zustimmen. Doch die Sparsamkeit als raison d'être? Das nimmt man niemandem ab. Eher könnte man auf den Verdacht kommen, daß Lampugnani die kulturpolitische Flanke der Neuen Rechten abdeckt, wenngleich nicht bekannt ist, daß Rainer Zitelmann ihn darum gebeten hat. Auf ein solches Schild gehoben wird er erst durch Kritiker wie Peter Neitzke: „Das Unternehmen ,Neue Einfachheit‘ ist Teil der politischen Rechtswendung, die sich auch in Deutschland als Kritik der Moderne präsentiert.“ Ein Kulturprogramm gesellschaftlichen Rückbaus sei es, das hier betrieben werde – aber ästhetisch verpackt.
Ist nun die ganze Auseinandersetzung von gesellschaftlichem Belang? Ja! Dabei ist keineswegs die Tendenz zur „Neuen Einfachheit“ der springende Punkt. Dafür ist der Hut viel zu alt. Die Frage ist vielmehr, warum denn solch' olle Kamellen plötzlich öffentlichen Streit auslösen können. Und ein Problem scheint man tatsächlich zu übersehen: So interessant diese Debatte auf intellektueller Ebene auch ist, so sehr ist sie letztlich auch ein Strohfeuer, das zwar so manchen blenden konnte, aber von den harten Facts der tatsächlichen Stadtentwicklung ablenkt. Anders ausgedrückt: Selbst wenn die eine Seite ständig die Faschismuskeule schwingt und die andere sich am dumpfen Beharren auf den tradierten Werten einigelt: Draußen wird munter gebaut, immer nach dem Motto: „Sollen sich doch die anderen ruhig den Mund fusselig reden, was schert uns das!“ Daran wiederum wird man dann noch lange zu kratzen haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen