Angegriffene Tiger sind besonders gefährlich

■ Der Morgen graute, als sich vier junge Tamilen vor dem Hindutempel auf die Lauer legten. Sie ließen das Auto des tamilischen Bürgermeisters von Jaffna heranfahren und warteten kaltblütig, bis er ausgestiegen war

Kaum hatte der Anführer den Politiker niedergeschossen, drängten die vier den Fahrer aus dem Wagen und brausten davon. Sri Lanka war schockiert über den ersten politischen Mord im Norden des Landes. Das war am 27. Juli 1975.

Zielsicherer Schütze war der zwanzigjährige Velupillai Prabhakaran. Der Sohn eines Regierungsangestellten aus einem Schmugglerdorf an der Nordküste der Insel war der Boss der obskuren Bande, die sich Tamil New Tigers (TNT) nannte und gerade zwei alte Revolver besaß. Wenige nahmen den jungen Heißsporn ernst, der im Freundeskreis verkündete, er wolle für die Befreiung der Tamilen kämpfen. Heute weiß man, daß Prabhakaran jeweils meint, was er sagt. Und er sagt seit über zwanzig Jahren immer das gleiche: Er werde erst aufhören zu kämpfen, wenn ein unabhängiger tamilischer Staat – Tamil Eelam – im Norden und Osten Sri Lankas errichtet sei.

Um ihrem politischen Ziel Bedeutung zu verleihen, änderten die Tiger ihren Namen 1976 offiziell in Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE). 1978 trat die Bewegung erstmals mit einem Schreiben an die Öffentlichkeit und gab elf politische Morde zu. Drei Wochen später verbot die Regierung die LTTE per Gesetz und publizierte die Namen von 38 gesuchten Rebellen. Zuoberst auf der Liste: Velupillai Prabhakaran.

Die Regierung verschärfte ihren Kampf mit dem Prevention of Terrorism Act, einem Gesetz nach dem Vorbild Südafrikas und Nordirlands, das erlaubte, Verdächtige bis zu achtzehn Monaten ohne Gerichtsurteil in Haft zu nehmen. Präsident Jayewardene gab der Armee zudem den Befehl, den Terrorismus bis Ende 1979 auszurotten. Doch das war Wunschdenken. Die Tiger gingen in den Untergrund und ließen ihr Kader im Libanon von der PLO ausbilden.

Am 23. August 1983 verübten Kämpfer der LTTE ihren ersten großen, minutiös geplanten Überfall auf einen Armeekonvoi. Dreizehn der fünfzehn Soldaten wurden getötet. Die Meldung des Attentats sandte Schockwellen nach Colombo. Der Zorn der singhalesischen Bevölkerung entlud sich in einem gräßlichen Pogrom, das sich später als sorgfältig geplant erwies. Chauvinistische singhalesische Politiker hatten nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, um tamilische Geschäfte und Wohnhäuser in Flammen aufgehen zu lassen. Tamilen wurden auf offener Straße mit Benzin übergossen und angezündet, in ihren Autos verbrannt oder zu Tode gehackt. Hunderttausend flohen in den Norden des Landes.

Dieses Pogrom änderte alles in Sri Lanka. Den meisten Tamilen nahm sie jegliche Hoffnung auf eine friedliche Lösung des Konflikts. Die tamilischen Parlamentarier traten von ihrem Amt zurück. Die Guerilla hingegen konnte sich des Ansturms kaum erwehren.

Insbesondere im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu lösten die Unruhen Sympathie und Proteste aus. In der Folge trat der indische Geheimdienst an fünf tamilische Gruppierungen heran und bot eine umfassende Ausbildung an. Bereits im September 1983 reisten die ersten paar hundert tamilischen Burschen nach Nordindien und lernten, mit automatischen und halbautomatischen Waffen zu schießen, Raketenwerfer zu bedienen, Minen zu legen oder gegen Panzer vorzugehen.

Vertrauten andere Gruppen der indischen Unterstützung blind, erkannten die LTTE bald, daß Indien vor einem Dilemma stand. Einerseits unterstützte Delhi insgeheim die Guerilla, andererseits machte die selber von Zentrifugalkräften bedrohte Regierung klar, daß sie an einem tamilischen Staat in Sri Lanka nicht interessiert war. 1985 zwang die indische Regierung die fünf Guerillagruppen zu erfolglosen Verhandlungen mit Colombo. Die LTTE sahen als kühle Rechner ihre Chance für Alleinherrschaft gekommen. Im März 1986 griffen sie die völlig überraschten Kämpfer der Tamil Eelam Liberation Organization (TELO) an, die von Indien als Gegenpol zu den Tigern aufgebaut worden waren. Rund dreihundert Kämpfer, darunter der TELO- Führer Sri Sabaratnam, wurden umgebracht. Indien griff nicht ein.

Damit begann ein brutaler Kampf um die Macht, den die Tiger Monate später endgültig für sich entschieden. Indien mußte sich vorkommen wie der Zauberlehrling, der die Mächte nicht mehr kontrolliert, die er gerufen hatte. Als es in Madras zu mehreren Schießereien kam, reagierte die Polizei zum erstenmal mit Härte. Doch Prabhakaran ließ sich nicht dreinreden: Anfang 1987 kehrte er endgültig nach Sri Lanka zurück.

Dort war mittlerweile die srilankische Armee daran interessiert, die Früchte des internen Machtkampfs zu ernten. Mit der Offensive „Liberation“ gedachte sie, die übriggebliebenen LTTE ein für allemal zu zerstören. Und die Tiger zogen sich, ohne die Bevölkerung wie versprochen zu schützen, nach den ersten Niederlagen in den Dschungel zurück.

Berichte über das brutale Vorgehen gegen Zivilisten und eine enorme Flüchtlingsbewegung riefen Indien erneut auf den Plan. Diesmal drohte Rajiv Gandhi offen mit militärischem Eingreifen. Im Juli 1987 legte er einen Vertrag vor, der den Tamilen eine gewisse Autonomie garantierte, und zwang sowohl den srilankischen Präsidenten Jayewardene wie auch alle wichtigen Guerillaführer zur Unterzeichnung. Die indische Armee sollte die Sicherheit der Tamilen im Norden und Osten garantieren, die Guerilla dafür ihre Waffen abgeben. Damit er das Zustandekommen nicht gefährden konnte, wurde Prabhakaran in Delhi zwei Tage unter Arrest gehalten. Gezwungenermaßen signalisierte er Einverständnis. Doch die LTTE wollten nicht die Macht über eine srilankische Provinz, sie wollten einen eigenen Staat. Bald einmal sprachen sie von Betrug, dann von einer Besatzungsarmee, es kam zu ersten Scharmützeln, und schließlich nahmen die Tiger den Kampf gegen die viertgrößte Armee der Welt auf.

Erneut wußten die LTTE den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. 1988 kam in Colombo Präsident Premadasa an die Macht, der versprochen hatte, die Inder aus dem Land zu werfen. Als er die LTTE zu Verhandlungen einlud, akzeptierten diese willfährig. In der Folge wurden die Tiger vom ehemaligen Erzfeind mit Waffen und Munition ausgerüstet, um gegen die Inder vorzugehen. Als die indische Armee im März 1990 auf Druck der srilankischen Regierung die Insel verließ, hatten über tausend Soldaten ihr Leben verloren. Die LTTE hingegen waren in einer komfortablen Lage. Gruppierungen, die von den Indern noch in aller Eile ausgehoben und bewaffnet worden waren, stellten keine ernsthaften Gegner dar. So konnten die Tiger ihr Waffenarsenal gleich nochmals aufstocken.

Monate später warfen die Tiger der Regierung Vertragsbruch vor. Sie eroberten etliche Armeelager auf spektakuläre Weise und ließen sich sogar erstmals auf direkte Konfrontationen ein, als etwa siebentausend Kämpfer ein strategisch wichtiges Camp angriffen. Der sogenannte zweite Eelam- Krieg hatte begonnen, blutiger und verlustreicher als alle anderen Kämpfe zuvor. Der Krieg ebbte ab, als im August 1994 Chandrika Kumaratunga an die Macht kam und erneut Friedensverhandlungen mit den LTTE versprach. Doch Präsidentin Kumaratunga ließ der Goodwill, den sie bei der tamilischen Bevölkerung genoß, die Verhandlungen mit den LTTE allzu selbstsicher angehen. Die Tiger sahen ihre Felle davonschwimmen, forderten, drohten und stellten im letzten April schließlich ein Ultimatum.

Die Regierung ließ es verstreichen, die LTTE handelten: Innerhalb von zehn Tagen versenkten sie zwei Boote, schossen zwei Flugzeuge ab und griffen verschiedene Armeelager an. Seither ist der dritte Eelam-Krieg im Gange, und es ist der blutigste seit Beginn des Bürgerkriegs in Sri Lanka.

Die Regierung Kumaratunga unterschätzte die LTTE wie alle andern vor ihr. „Alle Faktoren, die den Tigern in der Vergangenheit zu Sympathien, Geld und Waffen verhalfen, existieren nicht mehr“, glaubte die Präsidentin noch im April. Mit der Unterstützung Indiens können die LTTE in der Tat kaum mehr rechnen. Am 21. Mai 1991 hatte eine Selbstmordattentäterin Rajiv Gandhi umgebracht, und die Untersuchungsergebnisse weisen unzweifelhaft auf einen Anschlag der LTTE. Doch mittlerweile ist die Guerilla international derart gut organisiert, daß sie auf Indien kaum mehr angewiesen ist.

Erst im Oktober leitete die srilankische Armee eine eigene Offensive ein. Anfang Dezember feierte die Armee die Eroberung der Stadt Jaffna, ein Pyrrhussieg, wie sich herausstellte. Die Bevölkerung ist aus der Stadt geflohen und nicht zurückgekehrt.

Die Tiger trugen seitdem den Guerillakrieg in den Osten des Landes und die Hauptstadt. Nachdem sie im Oktober die Erdölvorräte des Landes fast gänzlich in Flammen aufgehen lassen und im November zwei Selbstmordattentate verübt hatten, schlugen sie jetzt mit einer Gewalt zu, welche die Regierung Kumaratunga in den Grundfesten erschütterte.

Keine Guerilla ist so straff organisiert wie die LTTE. Den mehreren tausend Kämpferinnen und Kämpfern sind Rauchen, Alkohol und Sex verboten. Alle tragen eine Zyankalikapsel am Hals, um auch verwundet nicht dem Feind in die Hände zu fallen, und leisten einen persönlichen Eid auf Prabhakaran, der seine Kämpfer mit eiserner Härte anführt. Dem Ehrenkodex gegen innen steht ein Verhalten gegen außen gegenüber, das alles gutheißt, was den LTTE nützt. Am 21. Oktober 1987 schossen LTTE- Kämpfer trotz Beschwörungen von Ärzten und Patienten aus dem Spital von Jaffna auf die indischen Truppen. Als diese endlich das Gebäude stürmten, richteten sie ein Blutbad an.

In der Bevölkerung werden die Tiger gleichermaßen respektiert wie gefürchtet. Im Norden anerkennen praktisch alle Tamilen, daß bisher einzig die LTTE die Bevölkerung vor Exzessen der Armee schützten. Andererseits leiden viele unter dem harschen Regime. Bereits 1984 wurden Polizeispitzel erschossen an Laternenmasten gehängt. Ein Schulvorsteher wurde 1985 einzig deswegen erschossen, weil er während eines Waffenstillstands ein Kricketmatch zwischen Schülern und Soldaten organisiert hatte. Seit 1990 kontrollieren die LTTE das Leben der tamilischen Bevölkerung im Norden. Als die Rebellen Ende November die Evakuation der Stadt Jaffna anordneten, mußten alle mit, Alte und Kranke, Mütter und Kinder.

Die LTTE zeigten schon oft, wie sie reagieren, wenn sie in Bedrängnis geraten. Das erste Massaker an 146 singhalesischen Zivilisten verübten wild um sich schießende LTTE-Kämpfer bereits 1985. Seit etlichen Jahren weiß man um die tödliche Entschlossenheit der sogenannten Black Tigers, einer Kamikaze-Truppe, die für spezielle Einsätze trainiert wird und die für den Tod Rajiv Gandhis, des srilankischen Präsidenten Premadasa und des Präsidentschaftskandidaten Gamini Dissanayake verantwortlich ist.

Ende Januar schlug Velupillai Prabhakaran in Colombo mitten im Bankenviertel zu. Die Botschaft ist klar: Ohne Verhandlungen mit den LTTE wird es in Sri Lanka keinen Frieden geben. Martin Stürzinger