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Kleine Einführung in die Alltagspoesie Von Martin Sonneborn

Mannigfaltig wie gotteslächerliche Flüche in Zeiten erhöhten Schienenersatzverkehrs sind poetische Kleinode unter den Schlagzeilen und Reklamerufen des täglichen Lebens. Wer will, darf als glitzerndes Beispiel die handgemalte Tafel des Frankfurter TAT-Theaters heranziehen, „Wir denken an Heiner MÜller“, die einige Tage vor dem Theater stand und jetzt, an einen Container im Hof gelehnt, tapfer weiter lügt, während die Schauspieler längst wieder andere Dinge des menschlichen Interesses durchdenken: Kantinenessen oder Flugzeugabstürze etwa.

Hervorragenden Dienst an der Idee gehobener Alltagspoesie tut auch der beinlose Leierkastenmann, dessen Drehorgel von einer fein ziselierten Tafel geschmückt wird: „Behindert – Beide Beine Amputiert – Danke!“ – „Da nich' für!“ möchte man ihm fast bedeuten. Und sich ausmalen, wie er auf jenen Spitzenpropagandisten eines Berliner Kaufhauses träfe, der seinerzeit mit warmer Stimme hoch glaubwürdig über den Lautsprecher versicherte: „Wir sind wahnsinnig! Wir sind verrückt! Wir vom Kaufhof müssen ja verrückt sein; bei solchen Preisen ...“

Eher als ein Reklamespruch für die eigene Dummheit muß gesehen werden, was 1988 an der Universität Münster in der Abschlußklausur Politologie I auf die Frage nach Behaviorismus geschrieben wurde: „Stichwort Black-box-Modell“. Wie genau dieser originelle, wenig sinnvolle Lösungsvorschlag aufkam, läßt sich nicht mehr nachvollziehen; aber bei lediglich einer Aufsichtsperson machten ihn sich spontan über drei Viertel der 500 angehenden Politspezialisten zu eigen, und der Dozent wußte wochenlang nicht anders, als von schweren Selbstvorwürfen gebeugt durch schmale, dunkle Gassen zu schleichen.

Und nun zu etwas ganz anderem. Flugzeugabstürze sind eine zweischneidige Angelegenheit und teilen die öffentliche Meinung wie ein unglaublich scharfes Küchenmesser den Randbereich einer zu groß gekauften Rolle Faxpapier! Der Berliner Lokalpolitiker Eberhard Diepgen hält sie für keine schöne Sache und möchte sie am liebsten verbieten. Time Life-Fotobuchredakteure dagegen sehen solche Vorkommnisse mehr unter ästhetischen Gesichtspunkten: Gerne zeigen sie manchmal völlig unscharfe Fotos niedergehender Flugmaschinen vor dem Aufprall, und die Nachlässigkeit des Fotografen wird mit dem Hinweis auf die gelungene Komposition des Bildes entschuldigt. Eine Entschuldigung, die man akzeptieren kann, aber nicht muß! Studierte Politologen etwa, die Time Life- Bücher durchblättern in der Hoffnung, auf völlig unscharfen Fotos niedergehender Flugmaschinen zum Beispiel endlich einmal eine ominöse Black box dingfest zu machen, werden wohl bitterlich enttäuscht. Auf der Stelle suchen sie finstere Schankgaststätten auf, in denen sie an Heiner Müller beziehungsweise Behaviorismus denken. Und natürlich an die abgetauchte Black box von Birgen Air. Was mag wohl an Gesprächen dort gespeichert sein? Herr Schiffner erwartet eine Durchsage des Billigflugkapitäns: „Verehrte Fluggäste! Wir stürzen ab, bitte beginnen Sie zu schreien und hektisch mit den Armen zu rudern ...“ Ich dagegen rechne eher mit: „Wir sind wahnsinnig! Wir sind verrückt! Wir von Birgen Air müssen ja verrückt sein; bei solchen Preisen ...“

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