■ Berlinale-Anthropologie
: Kein Stich für den Politologen

Zuweilen ersteht den von ihrem Schicksal gequälten Landbewohnern ein Retter. Er kommt aus der Stadt, groß, schlank, hell, eine Lichtgestalt (während die Landbewohner kleinwüchsig und dunkelhäutig sind). Die schöne Frau an seiner Seite beglaubigt, daß hier Natural Born Kings in Erscheinung treten.

Man wählt ihn zum Präsidenten, heitere Massen überschwemmen die Straßen. Energisch und kompetent nimmt er die dringendsten Probleme in Angriff – eine Landreform soll das Landarbeiterproletariat, das die Herren der großen Latifundien ausbeuten, in selbständige Kleinbauern verwandeln. Natürlich bringt das den Präsidenten sofort in schärfsten Gegensatz zu den Gutsherren, überhaupt der herrschenden Klasse in der Stadt.

Noch schärfer ist der Gegensatz zu dem riesigen Imperium im Norden, dessen Monopolunternehmen für den Obstanbau ein eigenes Interesse an der Ausbeutung dieses kleinen Landes verfolgen. Trickreich stürzt man den Präsidenten, dessen Exil Jahrzehnte später in einem rätselhaften Badewannentod endet. Systematisch zerstört man die Erinnerung an den Präsidenten. Keine Filmaufnahmen über seine Amtszeit werden überliefert, der schönen Frau dichtet man einen Liebhaber an, der die sexuelle Ehre des Präsidenten zerstört; aus der offiziellen Geschichte des Landes scheint er getilgt.

Bis ein neuer Retter ersteht. Es kommt von jenseits der bekannten Welt, über das Meer, das also gar nicht, wie die Landbewohner immer glaubten, am Horizont mit dem Himmel zusammentrifft, den Erdkreis abschließend. Der Retter heißt Andreas Hoessli und stammt aus der Schweiz (von wo der Vater des verschollenen Präsidenten in dies kleine lateinamerikanische Land ausgewandert war), er dreht einen Dokumentarfilm über den 1954 gestürzten Präsidenten, um Guatemala seine Geschichte wiederzugeben. Nun ja.

„Devils Don't Dream. Nachforschungen über Jacobo Arbenz Guzman“. Ich war durch den unablässig niedersinkenden Schnee ins Arsenal gewandert, vom hell ausgleuchteten Wittenbergplatz in die abgedunkelte Welserstraße, weil ich zum Namen Guzman etwas ganz anderes erwartete.

Einen Film über Abimael Guzman, den Präsidenten Gonzalo, dessen Leben mit aller Kraft zu verteidigen uns hier und da in der Stadt ein Graffito mahnt, der Gründer des Sendero luminoso in Peru, Theoretiker und Praktiker eines mörderischen Bauernkommunismus, in derselben ikonographischen Reihe wie Kambodschas Pol Pot unterwegs. Auch der Präsident Gonzalo sieht sich als Erlöser aus der Stadt, auf den die verdunkelten Landbewohner die ganze Zeit warten.

Wer im gut gefüllten Arsenal die Geschichte von dem aus der guatemaltekischen Geschichte getilgten Präsidenten Arbenz mit dem entsprechenden Wohlwollen, ja, unleugbar gläubig aufnimmt, das ist freilich der städtische Jungmensch, Tausende Kilometer entfernt (und vier Jahrzehnte). Leibhaft erscheint dem Jungmensch der Dokumentarfilmer Hoessli, der am Messianismus der ganzen Konfiguration insofern teilnimmt, als er Licht in diese verschlossene Kammer der Geschichte brachte, eine Schatzkammer voll verschütteter, aber so auch konservierter Hoffnung (denkt Hoessli wie Jungmensch).

Howard Hunt, CIA-Agent und einer von Nixons Dunkelmännern im Watergate-Skandal, gab bemerkenswert freimütig, beinahe schon sympathisch Auskunft, wie man einen solchen Umsturz inszeniert. Den Rahmen bildete der Kalte Krieg; auf gar keinen Fall mochten die USA in Latein- oder Südamerika ein Regime dulden, das wie dasjenige Arbenz' irgendwelche Affiliationen mit dem Kommunismus unterhielt. Auf die Untersuchung dieser Affiliationen verzichtete Hoessli vollständig. Daß Howard Hunt einfach die bekannte antikommunistische Paranoia elaborierte, als er den Präsidenten für eine Lusche und seine schöne Frau zu einer tüchtigen Agentin Moskaus erklärte, der Jungmensch im Arsenal – Tausende Kilometer und vierzig Jahre entfernt – wußte es genau. Bei aller Bereitschaft des Städters, der unterdrückten Landbevölkerung Erlösung zu wünschen, ich weiß es nicht.

Meldete sich ein freundlicher Herr mit dünnen Löckchen und verlangte nach dem Politologen. Der Politologe hätte zwischen den Fronten – Arbenz: kommunistische Marionette / Arbenz: Erlöser der Landbewohner –, der Politologe hätte die Position der Mitte eröffnen sollen, was ist denn nun wirklich los in Guatemala?

Höhnisch lachte er auf, der junge Mensch, und begann im Hintergrund ein heftig abwehrendes Gemurmel. Zwar wiederholte Hoessli mehrfach, auch ihm sei die Geschichte grundsätzlich unklar – der Sarg des vorgeblich vergessenen Arbenz wurde jüngst unter großer Massenbeteiligung nach Guatemala umgebettet, das Militärregime erwog die Vorführung von Hoesslis Film – der Jungmensch wußte nur allzugut Bescheid. Allzugern sieht sich der Städter als Retter eines fernen, vom Schicksal gequälten Landbewohners, genannt Der Mensch. Michael Rutschky