: In der Türkei geht das Spiel von vorne los
■ Koalition zwischen Islamisten und Mutterlandspartei kommt nicht zustande. Militär und Geschäftswelt fürchten Ende des Laizismus. Dennoch ist der Islamist Erbakan zuversichtlich. Gibt es bald Neuw
Ankara (dpa/rtr) – „Egal, ob es Neuwahlen gibt oder eine Koalition ohne uns gebildet wird – alle Alternativen sind Butter und Honig auf unser Brot“, hat Necmettin Erbakan, der Vorsitzende der türkischen fundamentalistischen Wohlfahrtspartei (RP), schon mehrfach gesagt. Daher wird er auch nach dem Scheitern der Koalitionsgespräche mit der national- liberalen Mutterlandspartei (Anap) unter Mesut Yilmaz die Hoffnung nicht aufgeben, eines Tages an die Macht zu kommen.
Mutterlandsparteichef Yilmaz hatte am Samstag erklärt, er habe die Forderungen der Wohlfahrtspartei abgelehnt, die Wirtschafts- und Finanzpolitik und das Amt für Religionsangelegenheiten zu leiten. Letzteres sei eine wichtige Institution, die nicht in die Hände von Politikern gegeben werden könne, die ein anderes Verständnis von einem sekulären Staat hätten. Auf der anderen Seite erklärte Erbakan, es gehe nicht an, daß seine Wohlfahrtspartei zwar als Partner bezeichnet werde, aber von der Wirtschaftspolitik ausgeschlossen werden solle.
Zwei Monate ohne Regierung
Zwei Monate nach den Wahlen wartet die Türkei immer noch auf eine neue Regierung. Der vor drei Wochen mit der Regierungsbildung beauftragte Yilmaz warf nach zehntägigen intensiven Verhandlungen mit Erbakan am Samstag das Handtuch. „Wir wollten, daß der Staat nicht auf der Basis von religiösen Regeln geführt wird, sondern nach Gesetzen“, sagte Yilmaz.
Die linksliberale Cumhuriyet berichtete gestern, die Armee habe Yilmaz und die amtierende Ministerpräsidentin Tansu Çiller von ihrem Unbehagen über eine Koalitionsbeteiligung Erbakans informiert. Generalstabschef Ismail Hakki Karadayi habe Çiller aufgefordert, eine Koalition zwischen ihrer konservativen Partei des Rechten Weges (DYP) und der Anap zu ermöglichen. Tatsächlich nahmen Vertreter beider Parteien gestern die Verhandlungen wieder auf.
Der Chef der dem Innenministerium unterstellten paramilitärischen Gendarmerie, Teoman Koman, habe Yilmaz telefonisch auf die Gefahren für das Land hingewiesen, falls die Gendarmerie und die Polizei der RP überlassen würden, berichtete Cumhuriyet. Auch in türkischen Wirtschaftskreisen war die Besorgnis groß.
Letzte Chance oder Neuwahlen
Wenn Erbakan im kommenden Jahr als erster Islamist Regierungschef seit der Gründung der modernen Türkei 1923 geworden wäre, hätte er seine Ankündigung wahrmachen können: die Türkei auf Distanz zur Europäischen Union zu bringen und einen Wirtschaftsverbund mit anderen islamischen Staaten zu forcieren. Die Militärs, die seit 1960 dreimal geputscht haben, hatten 1971 und 1980 die beiden Vorgängerparteien der RP verboten und Erbakan wegen Aktivitäten gegen den Laizismus – der Trennung von Staatsführung und Religion – kurz inhaftiert.
Gestern wurde damit gerechnet, daß Präsident Süleyman Demirel die Chefs aller fünf im Parlament vertretenen Parteien zu sich ruft. Falls diese sich nicht auf eine Koalition einigen können, kann Demirel nach der Verfassung Ende März eine Übergangsregierung ernennen und einen Termin für Neuwahlen festlegen. Erbakan ist sicher: „Nach den nächsten Wahlen werden wir allein regierungsfähig sein, weil die türkischen Gläubigen uns in der Regierungsverantwortung sehen wollen.“
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