■ Kulturwissenschaftlerin gibt grünes Licht:: Schweinchen Babe erlaubt
Tübingen (taz) – Das Benimmbuch des modernen Intellektuellen wird zur Zeit in großen Teilen neu geschrieben. Was früher verboten war (Abba, Jürgen Drews, Feuerzangenbowle), ist heute erlaubt und dient der Verfeinerung des Lebensstils. Aber ist wirklich alles erlaubt? Wir fragten die Tübinger Kulturwissenschaftlerin Franziska Roller.
taz: Frau Roller, darf man als anspruchsvoller Intellektueller „Schweinchen Babe“ gucken und sich dabei gut fühlen?
Roller: Unbedingt. Die Voraussetzung ist allerdings, daß um „Schweinchen Babe“ eine bestimmte Kultur aufgebaut wurde, daß der Film durch Collagen oder Kontexte in einem Rahmen gerückt ist, der signalisiert: Du darfst. Wenn beispielsweise die „Wahrheit“ sich positiv über einen Film äußert, darf der Intellektuelle ins Kino.
Sie erklären dieses neuartige Phänomen der Kulturrezeption mit einer „Theorie der vier Ebenen“. Was kann man sich darunter vorstellen?
Wir haben da zum Beispiel die erste Ebene. Die erste Ebene entspricht ungefähr dem, was Bourdieu unter „proletarischem Notwendigkeitsgeschmack“ versteht. Dort ist einfach schön, was vergnügt. Auf der zweiten Ebene gefällt, was aus Prestige oder Bildung heraus als schön empfunden wird. Es gilt: Ich weiß, was schön und gut ist.
Zum Beispiel „Scheibenwischer“ gucken.
Genau. „Scheibenwischer“- Gucker oder Literaturverfilmungsgucker genießen auf Ebene zwei. Das sind im Grunde nette Menschen, die vor den siebziger Jahren sozialisiert wurden und sich treu blieben. Die wechseln nie auf Ebene eins oder Ebene drei.
Was ist Ebene drei?
Ebene drei ist historisch die jüngste. Hier herrscht die Lust am Verbotenen, der ästhetische Genuß am Schlechten. Der Unterschied zur Ebene eins ist: Auf Ebene drei weiß der Kulturkonsument, daß er Schlechtes genießt. Er hört Smokie oder Abba, sieht die Cannes-Rolle oder Pulp Fiction. In Pulp Fiction wurde übrigens mit John Travolta ein typischer Vertreter der Ebene eins für die Ebene drei recycelt.
Das funktioniert aber nicht bei jedem.
Das funktioniert bei Leuten, die einen festen Ort in der Kulturlandschaft hatten. Bei Abba zum Beispiel, da ging das hervorragend. Die waren immer extrem, also total überzuckert.
Bei Zucker fällt mir natürlich Sweet ein. Die kamen auch zurück.
Sweet sind viel schwieriger. Bei Abba gibt es bei jedem Menschen eine Phase, wo man sagt: Nein, Abba ist blöd. Das ist die Voraussetzung dafür, daß Abba jetzt wieder groß rauskommen kann. Sweet hingegen habe zum Beispiel ich nie richtig blöd gefunden.
Wie erklären Sie sich die Entstehung der Ebene drei?
Familienzerrüttung, Gewalt im Fernsehen, die Umbenennung von Raider in Twix sind sicher Phänomene, die hier eine Rolle spielen. Aber natürlich darf auch der hohe Individualisierungsdruck nicht vergessen werden, der dazu führt, daß Kitsch neu bewertet wird. Es ist schwer, Lebensstil zu demonstrieren, der dazu führt, daß Kitsch neu bewertet wird. Es ist schwer, Lebensstil zu demonstrieren, wenn es zum Beispiel keine offen verbindlichen Kleiderordnungen mehr gibt. Also greifen die Leute zum Kitsch. Knalloranges Tuch, Neonohrringe, Spitzenkleidchen. Angefangen hat das Ganze aber möglicherweise schon viel früher, ich denke an die Dadaisten.
Würden Sie auch gern Neonohrringe tragen?
Ich träume schon lange davon, trau mich aber nicht.
Hat die Entstehung der Ebene drei auch mit Kontrolle zu tun?
Vielleicht. Die Ebene drei hatte aber zumindest in ihrer frühen Phase, als die Spaßguerilla oder „Welt im Spiegel“ den Nonsens entdeckten, auch sehr viel mit Befreiung zu tun. Ich denke, es gibt heute keinen Konsum von Kultur mehr, der nur auf Kontrolle aufbaut. Die Genußseite steckt immer schon drin.
Welche Rolle spielt die Industrie dabei?
Die Industrie produziert keine Trends, sie greift sie nur auf. Das Problem der Industrie ist, daß sie ihr Publikum auf die Ebene vier bringt.
Was ist die Ebene vier?
Auf der Ebene vier kippt die Ebene drei zurück auf die Ebene eins. Da finden wir zum Beispiel die Leute, die Helge Schneider voll geil finden. Die singen „Katzeklo“ mit und freuen sich aus reinem Herzen, wenn Helge auf der Bühne seine Musiker schikaniert.
Damit kommen wir zur entscheidenden Frage nach der politischen Korrektheit. Wie gefährlich ist das Helge-Schneider-Publikum?
Schwer zu sagen. Einerseits besteht die Gefahr, daß überhaupt keine politische oder sonstige Position mehr bezogen wird, weil auf Ebene drei oder vier alles erlaubt und beliebig ist. Andererseits hat sich die „ernsthafte“ politische Kultur auch hinreichend destruiert. Dort werden Unternehmungen zwar formal begründet, glaubwürdig aber ist das nie. Politik funktioniert eben nicht so, wie es im Selbstbild der bürgerlichen Gesellschaft vorgesehen ist. Politik hat viel mit Wünschen und Hoffnungen zu tun.
Lafontaine hat den Ossis genau erklärt, warum es ihnen schlecht gehen wird.
Eben. Die Ossis haben nicht CDU gewählt, weil Kohl sie argumentativ überzeugte, sondern, weil sie einen Mercedes wollen. Das ist ihr gutes Recht.
Gibt es auf der Ebene drei ein revolutionäres Potential?
Ich würde vielleicht nicht direkt von Revolution sprechen. Allerdings muß man sagen, daß Ebene zwei sich dadurch auszeichnet, daß hier immer das Maß herrscht. Auf Ebene zwei ist alles maßvoll, Ebene zwei ist das Reich der Sozialdemokraten.
Die heimlich davon träumen, bei den Reichen an der Tafel zu sitzen.
Richtig. Auf Ebene eins oder drei darf wenigstens offen geträumt werden, da gibt es keine Grenzen, zumindest keine des Geschmacks. Es herrscht Maßlosigkeit. Und Maßlosigkeit hat mindestens einen potentiell revolutionären Charakter. Das Gespräch führte
Ulrich Janßen
Franziska Roller, 30 Jahre alt, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ludwig-Uhland-Institut für empirische Kulturwissenschaft in Tübingen.
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