: Ein spaßiger Pessimist
„Des Mauren letzter Seufzer“ – Salman Rushdie singt in seinem ersten Roman seit den „Satanischen Versen“ dem bunten Indien, das in tausend Aufständen untergeht, ein lustiges und zugleich verzweifeltes Totenlied ■ Von Mathias Mahlmann
Es geht wüst, bunt und witzig zu. Ein Kinderguru orakelt, ein einbeiniger Türhüter gibt Boxunterricht, eine Kräuterhexe murmelt Geheimnisvolles, Le Corbusier baut Gartenhäuschen, Lenins zeigen sich im Dutzend, Atombomben werden geschmuggelt und Tempeltänzerinnen verramscht, Rauschgift wird gedealt, Darth Vader und der Blade Runner zischen durchs Bild: Sieben Jahre nach den „Satanischen Versen“, die Salman Rushdie auf eine dollarschwere Todesliste brachten und deren Schweigen literarisch nur durch eine leichtgewichtige Geschichtensammlung („Ost, West“) und eine bezaubernde, als Kinderbuch ausgegebene, zärtlich-phantastische Parabel („Harun und das Meer der Geschichten“) gebrochen wurde, hat Rushdie einen neuen, großen Roman vorgelegt: „Des Mauren letzter Seufzer“, ein rechter Haken ans welke Kinn derer, die Literatur gern abgeklärt wie eine Regierungserklärung, gesittet wie einen Kindergottesdienst oder grüblerisch wie eine Seminararbeit sehen.
Vom Grabstein herab, am Ende seines Lebens, erzählt der letzte Abkömmling des Da-Gama-Zogoiby-Clans, Moraes Zogoiby, aufgrund seiner dunklen Hautfarbe „der Maure“ genannt, die Geschichte seiner Familie über vier Generationen hinweg. Es ist die blutig-komische Saga einer Familie von Bombay-Buddenbrooks bis zu ihrem Untergang.
Gegen alle religiösen Reinheitsgebote
Die Familie ist aus einem solchen Mischmasch gebraut, daß Anhänger religiöser Reinheitsgebote verzweifelt in den Rosenkranz beziehungsweise Gebetsteppich beißen werden: Portugiesisch-indische Christen verbinden sich mit spanisch-indischen Chochin-Juden, in deren Ahnenfolge gewissen Sagen zufolge auch noch Muslime nicht nur die Finger im Spiel gehabt haben.
Diese Familie wird durch den Gewürzhandel und dunkle Geschäfte groß. Am Ende gebietet Moraes' Vater Abraham über einen riesigen Wirtschaftstrust und ist nebenberuflich der Pate Bombays. Die Familie zerreißen dabei die gleichen Fragen wie die indische Nation: Antikolonialisten streiten über Gewürzsäcke hinweg mit Anhängern der Kolonialmacht, Traditionalisten mit Progressiven in Kultur und Politik, Säkularisten beleidigen Tiefgläubige.
Mutterschaft ist vielleicht die wichtigste Idee in Indien, stellt Moraes einmal fest, nicht ohne Grund. Denn Moraes' eigene Mutter, die berühmte Malerin Aurora Zogoiby, ist eine Verkörperung dieser „Mutter Indien“, aber keine behütende und schützende, sondern eine voller Widersprüche, mit der den Helden eine inzestuöse Haßliebe verbindet.
Ein umgekehrter Oskar Matzerath
Aurora ist eine faszinierende und schillernde Gestalt, voller Liebe und selbstloser Leidenschaft. Und doch ist sie verhängnisvoll für ihre Familie. Ihren Mann Abraham zerstört sie mit der Schärfe einer „Pfefferliebe“, die sie ihm als energische 15jährige auf den Gewürzsäcken ihres Vaters ins Herz flößt. Ihre Kinder verdirbt sie durch ihre verzehrende Übermacht.
Moraes selbst ist nicht nur mit seiner Familie, sondern auch mit einem doppelten Gebrechen geschlagen: Seine rechte Hand ist zur Faust verkrüppelt, und er altert schnell wie ein umgekehrter Oskar Matzerath – jemand hat da die „Taste ff“ gedrückt.
Atemlos wird er deshalb durchs Leben gerissen. Nach einer abgeschiedenen Kindheit wird er, von seiner Mutter verstoßen, von seiner großen Liebe verraten, schließlich zum Koch und bezahlten Schläger des „Mini-Hitler“ Raman Fielding, des Führers der fundamentalistischen Hinduisten in Bombay. (Dieses Porträt von Bal Thackeray, des Führers der Hindu- Fundamentalisten in Bombay, hat dem Buch im Staate Maharashtra ein Vertriebsverbot eingebracht.) Moraes bringt Fielding, für den er sich sogar prostituiert hat, schließlich um, indem er ihn mit dem froschförmigen Hörer seines Telefons erschlägt, das „Quak, Quak“ macht, anstatt zu klingeln, da er ihn für den Mörder seiner Mutter hält. Moraes flieht nach Spanien, sein „Anti-Jerusalem“, wo er die Trümmer seines Lebens rückblickend besichtigt, während über Bombay eine Welle der Gewalt hereinbricht.
„Die Mitternachtskinder“ war Rushdies literarische Reflexion der Geschichte Indiens von der Unabhängigkeit bis zu ihrem entscheidenden Wendepunkt während der Herrschaft des Ausnahmezustands unter Indira Ghandi 1975 bis 1977.
Das Verhängnis kommt von innen
„Des Mauren letzter Seufzer“ führt die Geschichte weiter, zum Ende der pluralistischen Kultur des Landes in Eruptionen der Gewalt. Die Geschichte würde dabei trotz Rushdies großem Erzähltalent aus allen Nähten platzen, würde sie nicht durch das Leitmotiv, das dem Buch den Titel gegeben hat, zusammengehalten. Denn Moraes hat nicht nur die Hautfarbe mit einem Mauren gemein – sein Schicksal wird durch einen Zyklus von Bildern, den seine Mutter malt, mit dem Schicksal von Boabdil, dem letzten maurischen Herrscher, verwoben, der sein Reich der Toleranz auf dem spanischen Festland an die fundamentalistischen katholischen Truppen der Reconquista von Ferdinand und Isabella von Kastilien und Aragon 1492 verlor. Die Juden waren damals die ersten Opfer der religiösen Säuberung gewesen.
Diesem untergegangenen Reich galt der Sage nach „des Mauren letzter Seufzer“. Boabdil ist Moraes Alter ego: Das Reich, das Moraes und seine Generation verlieren, ist die Kultur der Vielfalt in Indien, die eigentliche „Idee Indiens“, wie Rushdie in einem Essay schrieb. Die finsteren Armeen der neuen Reconquista kommen diesmal allerdings aus dem Inneren der eigenen Kultur („jeder einzelne von uns barg unser Verhängnis in sich“). Rushdies sprachgewaltiges und anspielungsreiches Buch ist selbst ein langgezogener, schillernder Seufzer.
Salman Rushdie, der spätestens seit den „Satanischen Versen“ oft als „Postmoderner“ klassifiziert wird, zielt mit seinem neuen Buch auf jene dunklen Seiten der Epoche, über die sie sich gerne hinwegtäuscht. Die Kultur der Vielfalt, der vielen Wahrheiten und Wertsysteme, der Kult des fröhlichen Wirrwarrs, so die pessimistische Grundierung von Rushdies Fabuliertalent, besitzt nämlich ein zerstörerisches Potential: Der gemeinsame Nenner gerät aus dem Blick.
Am liebsten sich die Haut abschälen
Immer wieder träumen die Figuren im Buch davon, immer wieder auch Moraes, der Protagonist, sich die Haut abzuschälen, die Unterschiede von Rasse, Religion und Kultur abzulegen, damit zutage träte, was jenseits von pluralistischer Relativität liegt: das nackte Fleisch, die bloße menschliche Existenz.
Viel Hoffnung, daß die Rückbesinnung auf diese geteilte Existenz ein Mittel gegen die ethnisch oder religiös begründete Gewalt sein könnte, macht dieses Buch nicht: „Die Zivilisation ist der Zaubertrick, der uns unsere wahre Natur verbirgt“, stellt Moraes melancholisch fest.
Die eingenommene Alhambra, das verlorene Reich, die Herrschaft der Gewalt mag das letzte Wort der Geschichte sein. Rushdie stellt dagegen dieses Totenlied voller Späße, verzweifelt und schmerzhaft, manchmal fast sentimental, aber immer von einer Leidenschaft, die durch großen Ernst mitreißt.
Salman Rushdie: „Des Mauren letzter Seufzer“. Aus dem Englischen von Gisela Stege, Kindler Verlag, 580 Seiten, geb., 49,80 DM
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