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Keine Flucht in abstraktes Weltbürgertum

Birgit Rommelspacher analysiert in ihren Studien Deutschsein, Geschlecht und Formen der Ausgrenzung. Sie plädiert für eine Auseinandersetzung mit dem Nationalgedanken, anstatt fremde Menschen und Kulturen zu heroisieren  ■ Von Ulrike Baureithel

Wie begegnet eine Gesellschaft, die ideologisch auf dem Prinzip der Gleichheit beruht, der sozialen Ungleichheit? Dem jungen Mann beispielsweise, der versucht, sich aus dem Arbeitermilieu hochzuarbeiten, der Witwe, die ihren Unterhalt mit einer geringen Rente bestreitet, der schwarzen Immigrantin oder dem jüdischen Mitbürger? Die breite Kluft zwischen dem Anspruch, wir alle seien gleich, und der erbitterten Verteidigung quasiständischer Privilegien führt dazu, daß Ungleichheit geleugnet werden muß. Entweder wird die Begegnung mit „dem anderen“ vermieden, oder er/sie dient als Projektionsfläche für die eigenen abgespalteten Teile des Selbst. Deshalb gilt dann der „schwarze Mann“ als besonders potent, die Arbeiterfamilien als hedonistisch, die schwarzen Frauen in der feministischen Bewegung als verlockend emotional oder die Ostdeutschen als undiszipliniert und anspruchsvoll.

Birgit Rommelspacher diagnostiziert diese Form der Machtausübung als Dominanzkultur, die sich, in Anlehnung an Norbert Elias, durch die Vernetzung vieler Machtquellen ausbildet und soziale Über- oder Unterlegenheit durchzusetzen versucht. Ihr entsprechen Bilder vom „anderen“, die in den Kategorien von Über- und Unterordnung entworfen werden und als stabilisierendes Moment in einer als unsicher erfahrenen Gegenwart fungieren. Ist Dominanzkultur selbst schon ein Produkt der modernen Gesellschaft und ihrer Zumutung, sich in einer Vielzahl von Verhaltensoptionen zurechtzufinden, während sich gleichzeitig die traditionellen Ordnungsmuster auflösen? Und ist ein Geschütz „neuer Werte“ geeignet, um gegen Individualisierung und Selbstzentriertheit anzutreten?

Die Antworten, die die Berliner Sozialwissenschaftlerin in ihren als Buch zusammengefaßten, schlicht formulierten Aufsätzen offeriert, sind eher skeptisch. Im Zentrum ihrer sozialpsychologischen Analyse steht der Prozeß individueller und kollektiver Identitätsbildung, mit den deutschen Verhältnissen als Fluchtpunkt für weitergehende Überlegungen. Das nationalsozialistische Erbe habe in Deutschland vorzügliche Mechanismen der Schuldzuweisung und Selbstentlastung kultiviert und sie in den rassistischen und sexistischen Diskurszusammenhang verlängert.

Am Beispiel der Behindertenfeindlichkeit zeigt die Autorin, wie sich „Normalität“ in einer Gesellschaft konstituiert, die „Differenz“ als ständige Provokation empfindet. Wenn Leistungsfähigkeit und Autonomie zur primären Tugend stilisiert werden, fallen alle, die sozial abhängig sind, als „Abweichung“ heraus. Schon der Vergleich zwischen „gesunden“ und „kranken“ Gesellschaftsmigliedern bedeutet zu bewerten und damit auf- oder abzuwerten. Am Ende der Spirale steht die Frage, wer über den Wert welchen Lebens bestimmt. Insofern sei die Propagierung von Werten wie „Leistung“ geradezu kontraproduktiv, was sich, so Rommelspacher, auch in der Ursachenforschung zur rechten Gewalt manifestiere: Nicht sozial Deklassierte und Orientierungslose formierten sich hauptsächlich in der rechtsextremistischen Phalanx, sondern im Gegenteil Vertreter, die sich durch auffallend instrumentelle Arbeitsorientierungen und wohlstandschauvinistische Weltanschauungen auszeichneten.

Ein ausführliches Kapitel widmet Rommelspacher der Rolle der Frauen in der Dominanzkultur. Einerseits sind sie selbst Diskriminierte, die unter der Bildproduktion „des anderen“ zu leiden haben; zum anderen treten sie selbst, insbesondere wenn sie der weißen Mittelschicht angehören, in Attitüden der Dominanz in Erscheinung. Vor rassistischen und diskriminierenden Denkfiguren sei auch die feministische Theorie nicht gefeit, vor allem dort, wo Geschlecht als bestimmende Kategorie der Unterdrückung angenommen wird. Das sind, soweit es die feministische Diskussion betrifft, nicht sensationell neue Einsichten. Ihre Erscheinungsformen lassen sich jedoch mit Rommelspachers Machtanalyse systematisieren. Im Beitrag „Macht und Identität“ unterscheidet die Autorin nämlich drei Mechanismen der Ausgrenzung: die Problemverschiebung, die Umkehrung (der Verantwortung für die Probleme) und die Konstruktion des/der anderen.

Dagegen setzt Rommelspacher zusammen mit anderen SozialwissenschaftlerInnen auf das Konzept der „multiplen Identität“, das heißt einer mehrdimensionalen, integrierten Identität, die der widersprüchlichen (weiblichen) Machtpartizipation Rechnung trägt. Wenn auch Rommelspachers Begriff des „Selbst“ als eines „offenen Systems“ kritische Fragen aufwirft, eröffnet der Vorschlag doch Perspektiven, die die Leistungsfähigkeit der alten Rollentheorie übersteigt.

Wie ein solches Identitätskonzept in der Realität aussehen könnte, skizziert sie in dem lesenswerten Beitrag zur Frage des Deutschseins. Rommelspacher plädiert nachdrücklich für eine Auseinandersetzung linker und feministischer Theorie mit dem Nationalgedanken. Statt sich wie bisher in ein abstraktes Weltbürgertum zu flüchten und „das Deutschsein“ auf „die anderen“ zu verschieben, müsse anerkannt werden, daß man aus seiner nationalen Herkunft so wenig „aussteigen“ kann wie aus seinem Geschlecht. Wer die eigene Gruppe ablehne, müsse dies ausbalancieren durch die Heroisierung fremder Menschen und Kulturen, also eine bekannte Figur in der Dominanzkultur. Nicht das monolithische Gebilde „Nation“ sollte in das Identitätskonzept eingehen, sondern die durch Erinnerungsarbeit aktivierten Anteile der deutschen Geschichte, durch die die Kluft zwischen dem, was als deutsch gilt und was faktisch deutsch ist, deutlich wird. Nun mag in der häufig beschworenen „Anerkennung des anderen“ als neue „Vertrauensbasis“ der legitime Wunschtraum der Sozialwissenschaftlerin nach Versöhnung Pate gestanden haben, leider zehrt die Realität am guten Vorsatz, wenn es um die Verteidigung von Macht geht, auch unter Frauen. Der konsequente Verzicht auf Macht, den das Buch fordert, ist eben kein voluntaristischer Akt.

Birgit Rommelspacher: „Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht.“ Orlanda-Verlag, Berlin 1995, 224 Seiten, 32 DM

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