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Russen erlebten „kleinen Unfall eines Reaktors“

■ Die russischen Atombehörden sind immer noch Meister im Abwiegeln – in der Ukraine kommen langsam Informationen über die Folgen von Tschernobyl heraus

München (taz) – Georgi Kaurow beherrscht sie noch, die russische Kunst des Abwiegelns und Schönredens. Die Katastrophe von Tschernobyl war aus der Sicht des Sprechers des russischen Atomministeriums nur ein Betriebsunfall: „Wir hatten uns in der Sowjetunion auf einen nuklearen Krieg vorbereitet. Verglichen damit war das in Tschernobyl nur ein kleiner Unfall eines Reaktors.“

Mangelndes Wissen über den GAU kann man ihm dabei nicht vorwerfen. Denn Kaurow war damals noch nicht im Atom-, sondern im Verteidigungsministerium. Sein Dienstherr schickte ihn am 27. April 1986 zum ersten Meßflug über dem geborstenen Reaktor. Angst habe er dabei nicht gehabt: „Man ist etwas beunruhigt, aber das ist alles“, sagte er am Dienstag bei einem Hearing des Forschungszentrums für Umwelt und Gesundheit (gsf).

Daß beim gleichen Hearing der Ingenieur Piotr Palamartschuk, der in der Unglücksnacht im Kraftwerk war, von Meßgeräten berichtet hat, deren Skalen nicht ausreichten, um die Radioaktivität darzustellen, das läßt Kaurow kalt: „Ein richtiger Wissenschaftler schaltet auf die nächste Skala um.“

Die Zahl der Tschernobyl-Opfer ist aus Rußland von offizieller Seite nicht präzise zu erfahren. Die Ärztin Ludmila Petrosjan vom Moskauer Institut für Biophysik, wo die ersten Opfer behandelt wurden, will von mehreren tausend Toten nichts wissen: „Nach unseren Zahlen gab es 134 Patienten mit Strahlenkrankheit.“ Die mindestens 500.000 Liquidatoren, die für Arbeiten aller Art nach Tschernobyl geschickt wurden, seien heute zwar „öfter krank“, doch Tumoren seien nicht häufiger festzustellen, so Petrosjan.

Ihre Kollegin Mira Kossenko, die am 27. April in Tschernobyl ankam und dort Verletzte versorgt hat, nennt ebenfalls keine Zahlen. Doch daß die Tumorzahlen gestiegen sein müssen, wird aus ihrem Statement zumindest indirekt deutlich: „Nach einem russischen Gesetz wird jeder Tumor eines Liquidators in Zusammenhang mit Tschernobyl gebracht.“ Das sei jedoch, so Kossenko, nicht medizinisch begründet, sondern „eine soziale Maßnahme“. Wie viele Tumoren bei den Liquidatoren festgestellt wurden, verrät allerdings auch sie nicht.

In der benachbarten Ukraine gibt es dagegen die ersten Anzeichen, daß die medizinischen Daten nicht mehr vollständig im Panzerschrank verwahrt werden. So erklärte der ukrainische Ex-Gesundheitsminister Anatoly Romanenko in München: „Nach unseren Statistiken stammen etwa 180.000 Liquidatoren aus dem Gebiet der Ukraine. Von ihnen sind 1.800 gestorben.“ Und er ergänzt: „Embryonen, die im Mutterleib radioaktiver Strahlung ausgesetzt waren, haben heute häufiger Nervenkrankheiten als andere Kinder.“

Noch 1990 hatte das bei Romanenko anders geklungen: „Ich will betonen, daß wir keine strahlenbedingten Erkrankungen und keine strahlenbedingte Verschlechterung des Gesundheitszustands erwarten. Was wirklich zu Krankheiten führen kann, ist die Angst vor Strahlung, die Radiophobie“, sagte er damals. Felix Berth

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