piwik no script img

„Nur die Spitze des Eisbergs“

■ Santa Fu: Bei Schamgefühl Methadon-Entzug / Knackie mußte „halbtot“ ins Krankenhaus, Mitgefangene drohen mit Strafanzeige Von Silke Mertins

Hans-Adolf D. konnte einfach nicht pinkeln, „während zwei Wärter ihm auf den Schwanz starrten“, berichtet sein Mitgefangener Jörg Fischer aus der für Willkürmaßnahmen berüchtigten Justizvollzugsanstalt Santa Fu. Die Urinkontrolle ist jedoch verpflichtend, wenn man sich im Methadon-Programm befindet. Noch bis vor kurzem konnten sich, so Fischer, die Drogenabhängigen, bei denen der Urin unter Aufsicht nicht fließen will, allein und entkleidet in einer Trockenzelle Zeit lassen. Doch mit diesen „Extrawürsten“, hieß es, sei jetzt Schluß. Entweder sofortige Absonderung oder kein Methadon.

Hans-Adolf D. bekam ohne sein Medikament noch am selben Tag, vergangenen Mittwoch, schwerste Entzugserscheinungen, Krämpfe, Schüttelfrost und „kotzte sich fast zu Tode“, so Fischer. Gestern morgen habe man ihn in einem Notarztwagen „halbtot“ ins Zentralvollzugskrankenhaus Holstenglacis gebracht. Was seitdem passiert ist, wissen seine Mitgefangenen nicht. Jörg Fischer will jedoch zusammen mit anderen Santa-Fu-Insassen Strafanzeige gegen den behandelnden Arzt, Dr. Nowczyn, wegen Körperverletzung stellen.

Die Justizbehörde bestätigte auf Anfrage, daß D. tatsächlich ins Krankenhaus gebracht werden mußte. Allerdings hätte sich in Wahrheit alles ganz anders dargestellt. So habe es die Alternative, allein zu pinkeln „nie gegeben“, versicherte Behördensprecherin Irene Lamb. Vorgestern sei D. wie üblich Methadon verabreicht worden. Gestern habe der Arzt dem Augenschein nach „offensichtlichen Nebenkonsum“ festgestellt und – statt eine Urinprobe zu veranlassen – ihn herunterdosieren wollen. Doch dazu sei es nicht mehr gekommen, hat Lamb sich die Sicht der Knastmediziner darstellen lassen. D. sei „vorsorglich ins Krankenhaus eingeliefert“ worden, und „es geht ihm gut“.

Erst vor zwei Jahren allerdings ist eine Frau im Untersuchungsgefängnis an den Folgen des „kalten Entzugs“ gestorben, der verantwortliche Arzt wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Die von Gefängnisärzten praktizierte brutale Methadon-Unterdosierung steht schon länger im Kreuzfeuer der Kritik. Im Dezember hatte der Arzt und Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Rathaus, Peter Zamory (GAL), der Justizbehörde gedroht amnesty international einzuschalten. Denn das sei „mindestens ein Kunstfehler, wenn nicht sogar eine Mißhandlung.“ Mehrere Rechtsanwälte stellten bereits für ihre inhaftierten Klienten Strafanzeige.

Daß die Knastärzte die Substitution eigentlich ablehnen und mit ihren Mitteln die Hamburger Drogenpolitik boykottieren, wiederholte Zamory auch gestern gegenüber der taz. Der neueste Fall sei „nur die Spitze des Eisberges“. Die medizinische Versorgung in Hamburger Gefängnissen sei „unter aller Sau“. So gebe es beispielsweise keine Vorsorge für TBC oder Impfungen gegen Hepatitis. Medizinische Anforderungen würden den juristischen Bedürfnissen der Bediensteten untergeordnet. Nicht die Ärztin in der Justizbehörde sei weisungsbefugt, sondern Juristen. Zamory: „Ein einziger Skandal.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen