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Nagespuren an der Utopie

■ Boris Groys und Dietmar Kamper über Fiktion und Realität

Probleme mit der Wirklichkeit? Alles nur noch Simulation und Konfusion? Das muß nicht sein! Denn schließlich gibt es die Ratgeberserie Vom Verschwinden der Wirklichkeit, produziert vom Literaturhaus Hamburg. Am vergangenen Donnerstag war es wieder einmal soweit: eine weitere Folge, diesmal mit der entscheidenden Frage: Wie real ist das Reale? Wie fiktiv ist das Fiktive? Special Guests an jenem Abend waren der Berliner Soziologe Dietmar Kamper und der Kunsttheoretiker Boris Groys aus Moskau.

Kamper stellte erst einmal die Frage selbst in Frage – hier Fiktion, da Realität, das seien doch Scheinalternativen, mit denen die komplett durchmedialisierte Welt gar nicht mehr begriffen werden könnte. Wenn überhaupt, dann wäre in erster Linie nicht so sehr der Verlust der Wirklichkeit zu beklagen, als vielmehr die überall und zunehmend kursierenden Möglichkeits- und Bewältigungskonjunktive, die Kreativitäts- und Phantasieimperative, kurz, die Fiktion einer offenen und gestaltbaren Zukunft sei saft- und kraftlos geworden. Eine Depression nagt unerbittlich an der Utopie des ewig Möglichen. Dagegen würden auch die vielfältigen Durchhalteparolen und Bescheidenheitsappelle nicht mehr helfen.

Was Not täte sei eine neue Sprache, eine neue Theorie – neue Kategorien braucht das Land! In der Tat, hoch gepokert, aber da verließen sie ihn dann auch: Dietmar Kamper blieb, wenn nicht eine Antwort, so doch den Hauch einer Perspektive schuldig.

Boris Groys wollte sich dagegen nicht lumpen lassen. Er trat mit dem Versprechen an, selbstverständlich zwischen Fiktion und Realität unterscheiden zu können. Zur Demonstration wählte er die verbreitetste Form einer Bilder produzierenden Wunschmaschine: den Fernseher. Das Interessante an ihm sei ja nicht nur sein bewegt flimmerndes Bild, über das sich unendlich lange streiten ließe, ob es ein Medium der Wahrheit oder der Lüge sei. Vielmehr stelle der Fern-seher eine zeitgenössische Form der Magie dar, bei der unter allen Umständen etwas unsichtbar bleiben muß, um eine bildhafte Sichtbarkeit hervorzubringen. Jeder Versuch, hinter das Geheimnis des Bildes zu kommen, also das Fern-sehergehäuse aufzuschrauben, würde mit einem tödlichen, viele tausend Volt starken Blitz (fast wie in der antiken Götterwelt) bestraft werden, zugleich aber auch das Bild selbst zerstören.

Groys zog daraus den Schluß, daß die Wahrheit des Bildes oder die Wirklichkeit hinter der Fiktion nur als Entzug erfahrbar ist. Immerhin, na ja. Aber letztlich fehlt auch ihm das Instrumentarium, diese Erfahrung weiterführend zu beschreiben. Ob nun als Überfluß erschlaffter Fiktionen, wie bei Kamper, oder als Realität als Inbegriff des Entzugs, wie bei Groys, das eine markiert eher die Binnen-, das andere eher die Außenperspektive ein und desselben Problems. Es gibt noch viel zu tun. Schaun mer mal die nächste Folge.

Christian Schlüter

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