: Der Optimismus der Bilder
■ Der französische Cirque baroque glänzt mit allen Sinnen auf Kampnagel
„Aber zu welchem Zweck ist die Welt geschaffen worden?“ fragt der Voltairesche Candid naiv einen Gelehrten. „Um uns rasend zu machen“, ist die Antwort. Der Cirque baroque, der mit Candides am Freitag auf Kampnagel seine Deutschlandpremiere gab, erzählt nicht stringent die Geschichte des Voltaireschen Romans, er verwebt Szenen von beklemmender Raserei und Optimismus und treibt den von Voltaire angegriffenen Glauben an die vernünftige Verkettung aller Ereignisse ad absurdum. Furios, faszinierend und poetisch setzt diese Truppe von mehr als 20 Artisten, Tänzern und Musikern das dramatische Aufeinanderprallen in Szene: Hier Candide, verdoppelt zu einem Mann und einer Frau, zart, unverdorben, mimisch-komisch und clownesk. Dort eine Gruppe von maskierten Gestalten, das Rasen figurierend. Rasen als Aggression, als Leidenschaft, als Verzweiflung, als Melancholie oder als der zeitlichen Linearität sich widersetzende beschleunigte Simultanität. Hier das lichte Burleske, dort das zerbrechend Zerbrechliche, beides von anrührend fragiler Schönheit. Aus dem Ineinandergreifen von zirzensischer Artistik, Pantomime, Tanz, Kostümen, Masken und apokalyptischer Rockmusik, die alle voranpeitscht, entwickelt sich eine Bilderwelt, die die Sinne eigentümlich überflutet, das Auge gleichzeitig zucken, starren und staunen macht.
Kunst am Trapez oder auf dem Seil ist nicht Zurschaustellung nervenkitzliger Waghalsigkeit, wenn es um Katastrophen geht. Und was ist geeigneter, das Taumeln eines Schiffes im Sturm vor dem bebenden Lissabon zu verbildlichen, als all diese schwingenden Trapeze und Seile? Was könnte den Schwindel, den dieses historische Erdbeben des Jahres 1755 im Denken der Menschen hervorrief, besser vermitteln als die Gleichzeitigkeit all der Bewegungen auf der Bühne und die wundersamen Verrenkungen der Artistinnen, die irrwitzig in Seilen verwickelt oder in Reifen sich krümmend über dem Abgrund schweben? In einer alptraumhaft-irrealen Szene wird die Bühne mit Schuhen der unschuldigsten Katastrophenopfer beworfen. Die Candides wollen die Schuhe ordnen, hängen ein Paar Schuhe an Fäden und versuchen, sie wieder laufen zu lassen. Die Maskierten, denen die Candides noch immer befremdet und hilflos gegenüberstehen, werfen die Schuhe in die Luft, hören sie auf den Boden knallen, schlagen Schuhe aneinander. Sinnlosigkeit die der Sinnlosigkeit gebührt. Im Hintergrund hell angestrahlt ein Paar, das harmonisch akrobatische Hebeübungen vorführt. Zum Freuen schön, denn es kann noch ein Zusammenspiel geben. Schön zum Weinen aber auch, denn es könnte ein nostalgischer Abgesang sein. Das Ende bleibt offen. Hinter einem Netz verschwinden die Candides und strecken die Arme flehentlich gen Himmel.
Auf die Frage, was Optimismus sei, antwortet Candide im Roman einmal, das sei der Irrsinn, alles wunderschön zu finden, wenn es einem hundsmiserabel geht. Nach dem Applaus wurde das Lied „Don't Worry, Be Happy“ eingespielt. Ein Abend irgendwo zwischen Zirkus und Theater, ein Abend zum erschreckten oder ergriffen staunenden Versinken in irrsinniges Rasen oder Lachen.
Elke Siegel
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