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Der Überlebende Von Mathias Bröckers

„Eines der besten Bücher – wenn nicht das beste –, die je über die Welt und das Geschäft des Rock 'n' Roll geschrieben wurden.“ Jubilierende Presseempfehlungen auf Buchdeckeln, wie dieses aus der New York Post, sind Legion und deshalb meist wertlos. So würde es denn auch nicht viel nützen, wenn wir hier noch drei dicke Ausrufezeichen hinter diese Behauptung setzten. Selbst der Empfehlung eines Freundes, die Autobiographie von Bill Graham zu lesen, wollte ich anfangs nicht nachkommen. Als Impresario und Veranstalter von Bob Dylan, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Grateful Dead, Doors, Stones und anderen Größen, als Gründer des „Fillmore“ in San Francisco, als „Macher“ der Pop- und Hippiekultur mag dieser Billy Graham viel zu erzählen haben. Aber soll man das wirklich alles lesen?

Dann packte ich das Buch vor zwei Jahren doch ins Reisegepäck und erlebte einen der kürzesten Transatlantikflüge aller Zeiten. Ja, das sollte man (frau natürlich auch) wirklich lesen, und jetzt ist es auch auf Deutsch erschienen („Bill Graham Presents“, Verlag Zweitausendeins, Frankfurt, 806 Seiten, 35 Mark). Diese Lebensgeschichte, montiert aus Interviews, die Robert Greenfield mit Graham, seiner Familie und Hunderten von Rockstars führte, ist nicht nur eine unverzichtbare Dokumentation der Rockkultur von den sechziger Jahren bis heute, es ist vor allem die Geschichte eines Überlebenden.

Als Wolfgang Grajonza wurde Bill Graham 1931 in Berlin geboren; der Vater starb zwei Jahre nach der Geburt, die Mutter, russischer Abstammung und Jüdin, bringt die sechs Kinder durch den Verkauf von Papierblumen durch. Bis die Nazis kommen, vor denen sie ihre beiden Jüngsten, Bill und seine Schwester, in einem Waisenhaus versteckt. Von dort gelangt er 1941 über Frankreich und Portugal mit einem jüdischen Kindertransport nach New York. Die Mutter wird auf dem Weg ins KZ ermordet, eine seiner älteren Schwester kommt nach Auschwitz und überlebt. Der Elfjährige wird von einem Ehepaar aus der Bronx adoptiert; als er erfährt, daß die jüdische Gemeinde den Stiefeltern dafür monatlich 48 Dollar zahlt, will er den Zuschuß selbst aufbringen: Er arbeitet nach Schulschluß, zockt und würfelt mit den Straßenkids, ist mit 14 „selbständig“, jobbt, kellnert und pokert, fährt Taxi und hat mit 20 das erste eigene Cabrio.

Mit dem Job als Mädchen für alles bei der „San Francisco Mime Troup“ beginnt 1965 sein kometenhafter Aufstieg als Impresario der Musikszene. Er stellt das kreative, psychedelische Chaos der Sixties auf die Beine und auf die Bühne; ohne Grahams Organisationstalent, so bekunden viele Beteiligte, hätte es den „Summer of Love“ und was folgte, so nie gegeben. Bevor er 1991 bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben kam, hatte ihn die Vergangenheit schon wieder eingeholt: 1985 protestierte Graham mit ganzseitigen Anzeigen gegen Reagans Bitburg-Besuch und organisierte eine Kundgebung mit Überlebenden des NS- Terrors. Vergeblich. Reagan erwies den SS-Tätern die Ehre, und Grahams Firmenzentrale in San Francisco wurde niedergebrannt. Die Täter wurden nie entdeckt, doch die „Fanpost“, die er nach dem Brand erhielt, war eindeutig: „Hitler hätte dich schon damals vergasen sollen!“

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