: Protestschreie und Börsenfieber
■ Sie beginnen mit den Massakern auf dem Platz des Himmlischen Friedens und enden in einem Steakhaus: Reportagen über die „Zukunft einer Weltmacht“ von Orville Schell
Seit der amerikanische Sinologe und Journalist Orville Schell 1975 zum ersten Mal seinen Fuß auf chinesischen Boden setzte, zieht es ihn immer wieder zum Platz des Himmlischen Friedens, „dem symbolischen Mittelpunkt eines der rätselhaftesten und undurchdringlichsten Länder der Welt“. Der Tiananmen-Platz ist nicht nur in den Reportagen Schells „Chinas Staatskathedrale, ein Heiligtum, in dem viele das sehen, was es heißt, chinesisch zu sein“. Nachdem Mao 1949 die Gründung der Volksrepublik eben hier ausgerufen hatte, setzten die Parteistrategen alles daran, diesen „symbolischen Ort im Bewußtsein der ,breiten Masse‘ mit der sozialistischen Revolution in China zu verknüpfen“. Ein gigantisches Stadtsanierungskonzept gehörte ebenso dazu wie die vielfache Verwendung des Platzes als Motiv auf Briefmarken und Banknoten.
Dem Jahr 1989 und dem verheerenden Massaker auf eben diesem Platz des Himmlischen Friedens fühlt sich auch der Journalist Orville Schell in seinem Buch „Das Mandat des Himmels. China: Die Zukunft einer Weltmacht“ verpflichtet. In diesem Jahr galt es, den vierzigsten Jahrestag der Gründung der Volksrepublik zu feiern, aber auch den siebzigsten Geburtstag der 4.-Mai-Bewegung, die seinerzeit Wissenschaft und Demokratie zu ihren Idolen erhoben hatte. Die Studenten, die seit Mitte der 80er Jahre in informellen „Salons“ den freien Meinungsaustausch übten, sahen diese Jubiläen in einem traurigen Zusammenhang. Was ihre studentischen Mitstreiter 1919 gefordert hatten, hatte sich nicht erfüllt. Nicht zu übersehen war die herrschende Vetternwirtschaft und Korruption. Der Tod des in Ungnade gefallenen KP-Generalsekretärs Hu Yaobangs – einem nach Schell „merkwürdigen Zwitter aus loyalem Parteidiener und idealistischen Außenseiter“ – bot im April 1989 einen willkommenen Anlaß, sich im symbolischen Zentrum der Macht, dem Tiananmen, zu zeigen. Hier nahmen jene Proteste ihren Ausgang, die am 4. Juni mit einem Blutbad endeten. Bilder, die sich der Weltöffentlichkeit ins Gedächtnis eingebrannt haben.
Der Geschichte dieses „Zwischenfalls“, wie es im offiziellen chinesischen Sprachgebrauch heißt, widmet Orville einen Großteil seines Buches. Wenngleich er wenig Neues zu präsentieren weiß, liest sich seine Beschreibung doch so spannend wie ein gut geschriebener Krimi, in dem der Mörder von Anfang an bekannt ist.
Wenige Jahre später treibt sich Schell staunend in der chinesischen Rockszene herum: „Neugierig, ob es zwischen den Demonstranten von damals und diesen Rockern eine Verbindung gab, fragte ich einen jungen Mann in einer Armeejacke, ob er 1989 auf dem Tiananmen-Platz dabeigewesen sei. Er bejahte die Frage, lächelte und wechselte dann das Thema, als hätte ich ihn nach einem Verwandten gefragt, der unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen war.“ Hoffnungslosigkeit, Ungewißheit und Langeweile, gemischt mit Ironie, Sarkasmus und einer kräftigen Dosis Fatalismus beherrschen die kulturelle Szene.
Zugleich erlebt China den wirtschaftlichen Aufschwung. Wirtschaftlich scheint nach der Reise Deng Xiaopings durch Südchina 1992 alles erlaubt, was Gewinn abwirft. Revolutionslieder erleben ihre Wiederauferstehung, alte und junge Maos hängen als Schutzengel in Taxis, und der inflationsgebeutelte Bürger erhofft sein großes Glück im Börsenspiel. Auch Schell kann sich der Faszination des rasanten Wirtschaftswachstums nicht entziehen. Dem Leser, der auf eine Analyse wartet, präsentiert er allerdings nur eine schwindelerregende Flut von beeindruckenden Zahlen, verziert mit mehr oder weniger skurrilen Auswüchsen der chinesischen Kapitalismusvariante.
Schells Reportagen aus dem Reich der Mitte enden in einem kalifornischen Steak-House. Dort trifft er Wuer Kaixi, der einst zu den meistgesuchten Studentenführern Chinas gehörte. Unter dem Namen Kevin arbeitet er allabendlich als Trouble Shooter, kümmert sich um zahlungsunwillige Gäste und träumt von seiner fernen Heimat. Natürlich möchte auch Wuer Kaixi zurück: „,Ich möchte zurückgehen und entweder etwas tun, was politisch wirklich sinnvoll ist, oder...‘ – er grinste und zögerte einen Augenblick –, ,...oder ich möchte Milliardär werden!‘“ Beate Rusch
Orville Schell: „Das Mandat des Himmels. China: Die Zukunft einer Weltmacht“. Rowohlt Verlag, Berlin. 569 Seiten, 48 DM
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