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Von überall in der Welt können sich Internet-User an den Potsdamer Platz zoomen. Digitaler Höhepunkt: Die Verschiebung des Kaisersaals ■ Von Katrin Bettina Müller
Wo sich andere von Schildern „Betreten verboten. Eltern haften für ihre Kinder“ abschrecken lassen, lernte Martin Potthoff früh, Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu wittern. Denn schon die Sonntagsausflüge mit seinen Eltern waren der Baustellenerkundung gewidmet. Kein Wunder, daß der Fotograf und Medienproduzent da im Sommer 1994 nicht der Versuchung widerstehen konnte, einfach auf den stillgelegten „Bungee-Jumping-Kran“ am Potsdamer Platz zu klettern, um sich einen Überblick über das Ballett der Kräne zu verschaffen.
So begann das city.scope-Projekt, das Panoramabilder vom Potsdamer Platz via Internet in die ganze Welt verschickt. Die ersten 360-Grad-Bilder setzte Potthoff aus Fotografien zusammen. Seit Oktober 1995 nimmt eine eigens entwickelte Videokamera, automatisch gesteuert, den täglichen Schwenk von einem Haus in der Stresemannstraße am Rande des Platzes auf. Einmal im Monat im Internet gespeichert, erlaubt das bearbeitete Panorambild dem Abrufenden, sich nah an den Baugrund heranzuzoomen oder im zeitlichen Vergleich aus Gruben langsam Rohbauten wachsen zu sehen. Am schönsten aber bleibt, durch die wechselnden Stimmungen des Himmels über Berlin zu gleiten, der so offen bald nicht mehr zu sehen sein wird.
Das digitale Panoramabild, elektronisch archiviert und on line abgebildet, wurde von der timeline GmbH, einer von Potthoff mitgegründeten Medienfirma, entwickelt. 100.000 Mark steuerte der Wirtschaftssenator von Berlin für den Ausbau des 200.000 Mark teuren Systems bei. Doch das Ziel von Potthoff ist nicht bloß Imagepflege für den Potsdamer Platz und Befriedigung von Baustellen-Tourismus. Er möchte das Panoramabild im Internet vielmehr zur Basis für ein alternatives Diskussionsforum über Stadtentwicklung ausbauen.
Den Blick über die Dächer Berlins lenkten auch schon Panoramen im 19. Jahrhundert. Rundbilder, deren dreidimensionale Kulissen die Illusion steigerten, wurden in Rotunden präsentiert. Als ob er dabeigewesen wäre, sollte sich der Besucher fühlen. Die Spezialität der Panoramenmaler und -fotografen, für die schon um die Jahrhundertwende spezielle Kameras angefertigt wurden, waren bedeutende Stadtansichten und historische Schlachten. In ihnen verband sich eine aufkeimende Unterhaltungsindustrie, die mit der Einbeziehung aller Sinne die Illusion des Wirklichen zu verdichten suchte, mit vaterländischem Sendungsbewußtsein und Bildungsprogramm. Information als Spektakel – insofern taugen die Panoramen nicht schlecht als Vorläufer der Medienschlachten unserer Tage.
Doch gerade vom bloßen Vermarkten des Sensationellen will sich das city.scope-Projekt emanzipieren. Ihre Zielgruppe sind nicht allein Technikfreaks, die an Schwimmbaggern, Tauchankern und Tunnelbohrungen ihren Spaß haben. Potthoff, dessen Produktion inzwischen in der Köthener Straße, am Rande des Potsdamer Platzes arbeitet, erlebt diesen Ort täglich als einen der Gegensätze. Zu dessen Geschichte gehören – allein in der jüngsten Zeitschicht seit dem Abriß der Mauer – die Rollheimer, deren Wagen inzwischen verschwunden sind und die Containerstädte der Bauarbeiter ebenso wie die Demonstrationen, die Richtung Abgeordnetenhaus hier vorbeikommen. Aber noch klafft zwischen solchen marginalisierten Erscheinungen des Stadtlebens und der Kommerzialisierung des öffentlichen Raums, die Zug um Zug vom Potsdamer Platz Besitz ergreift, eine große Lücke. Dazwischen den Dialog zu stiften, Umweltschützer, Bürgergruppen, Architekten und Investoren über ihre Interessen und Bedürfnisse zu einer Auseinandersetzung im Internet zu bringen, ist die Vision hinter dem city.scope.
Nun gleichen sich Baustellen überall auf der Welt. Daß die unkommentierten Bilder allein nicht ausreichen, zu einem kritischen Dialog zu befähigen, weiß das city.scope-Team. Als nächsten Schritt planen sie deshalb ein Textarchiv. Aber noch fehlen ihnen die Mittel, um das inflationär anschwellende Material zu bearbeiten; nicht zuletzt müssen die Speicherplätze im Internet bezahlt werden. Zur Zeit sind sie auf der Suche nach einem Sponsoren.
Doch die Geldsuche hat sich bisher als schwierig erwiesen. Abgewunken haben nicht nur die in der Nähe ansässigen Kulturinstitutionen; auch die Bauherren vom Potsdamer Platz verweisen auf ihre eigene rote Info-Box. Mit denen verwechselt zu werden, stößt dem city.scope-Team bitter auf. Denn schließlich sind sie dort mit ihrer Idee vom Panorama-Bild im Internet zuerst vorstellig geworden und abgeblitzt.
Wie die diskursive Erweiterung des city.scope-Programms funktionieren könnte, will timeline in einem Pilotprojekt anläßlich der Verschiebung des Kaisersaals des Hotels Esplanade vorstellen. Wenn die Medienschlacht dort am 15. März zu kochen beginnt, wollen sie das Baustellenfieber durch Hintergrundinformationen abkühlen und die Euphorie des technisch Machbaren mit Fragen nach der Notwendigkeit konfrontieren.
city.scope Panoramabild-Dokumentation. Internet-Adresse:
e-mail marpo6contrib.de.
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