„Kein Geschenk für Diktatoren“

Sechs Jahre nach dem Sturm auf die Stasizentrale kamen über zehntausend, um Mielkes Aktenreich zu besichtigen. Aus dem Komplex soll ein Dokumentationszentrum werden  ■ Aus Berlin Torsten Teichmann

5.600 braune Papiersäcke liegen übereinandergestapelt in langen Reihen in einem Raum mit Wänden aus Kupfer. Es ist der Bunker des alten Stasiarchivs im Berliner Bezirk Lichtenberg. Das Archiv und ein kleiner Teil der anderen monströsen Gebäude der ehemaligen Stasizentrale ist am Wochenende zum erstenmal auch für die Öffentlichkeit zu besichtigen.

In den Säcken, auf denen Nummern und Namen von Dienststellen der ehemaligen Staatssicherheit stehen, sind verschieden große Aktenschnipsel gesammelt. Die Unterlagen waren beim Sturm auf die Stasizentrale Mitte Januar 1990 von den Geheimpolizisten nur vorgerissen, aber noch nicht vernichtet worden. Die Akten, vorwiegend aus dem Bereich Kirche und Kultur, sollen jetzt rekonstruiert werden. Um die Papierfetzen aus einen Sack zusammenzusetzen, brauche man mehrere Wochen, erklärt eine Mitarbeiterin. Die meisten Besucher bleiben einfach kopfschüttelnd davor stehen.

Daß viele Menschen mit dem Thema „Stasi“ sechs Jahre nach der Erstürmung noch nicht abgeschlossen haben, zeigt schon der enorme Andrang am Sonnabend morgen. Schon zu Beginn sind 1.000 Besucher gekommen, der Strom reißt auch am zweiten Tag nicht ab. Über 10.000 Besucher zählen die Veranstalter an beiden Tagen, zeitweilig warten 2.000 Menschen im grauen Hof vor den Gebäuden. Manch eine und einer ist an diesem Tag extra aus Nürnberg oder Cottbus angereist.

Viele nutzen die Gelegenheit, um einen Antrag auf Akteneinsicht zu stellen. Die meisten interessiert dabei vor allem, wer sie bespitzelt haben könnte. Aber es gibt auch andere Stimmen: „Ich will es gar nicht wissen“, erklärt Getrud Hoffmann, denn wenn Namen von Freunden oder Bekannten auftauchen sollten, dann „wüßte ich nicht, wie ich damit leben sollte“. Sie und ihren Mann treibt einfach die Neugierde, hineinzusehen in den Apparat, mit dem man so lange gelebt hatte.

Es sind oft ältere Besucher, die meisten von ihnen haben einen großen Teil DDR-Geschichte selbst erlebt. Ihre Emotionen können viele nicht verbergen. So wie ein Mann um die Sechzig, der aufgeregt am Bügel seiner Brille kaut. Er fragt den Ausstellungsleiter Christian Ladwig, wer denn heute „den Vier-Mann-Personenschutz für diesen Verbrecher“ – er meint den ehemaligen Stasichef Erich Mielke – bezahlt. Mielke lebt heute in einer Neubauwohnung in Hohenschönhausen.

Andere erkundigen sich über den Stand im Fall des PDS-Bundestagsgruppenchefs Gregor Gysi, der die Gauck-Behörde wegen eines Gutachtens in seinem Fall verklagen wollte.

Joachim Gauck, der Behördenleiter, fährt am Samstag mittag vor. Ihm schüttelt eine ältere Frau die Hand. Sie bedankt sich für die wichtige Arbeit, die er mache. Umringt von einem Pulk Journalisten, beschreibt sie dem Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen aber auch ihre Angst, daß die „91.000 Stasimitarbeiter und ihre zigtausend Helfershelfer“ bei einer der vielen neuen Wachschutzfirmen eine Anstellung gefunden haben. Und von ganz hinten ruft einer Gauck zu: „Die sitzen schon wieder ganz oben!“

Gauck beschwichtigt: Dies sei ihm lieber, als wenn die Leute im öffentlichen Dienst arbeiteten. Die Reaktion der Besucher zeige aber, sagt Gauck, daß man keinen Schlußstrich unter die Geschichte ziehen dürfe: „Ein Schlußstrich ist immer ein Geschenk für die Diktatoren.“

Es gibt auch Besucher, die fassungslos vor den Schautafeln über die Arbeitsweise der ehemaligen Geheimdienstler stehen. „Ich bin richtig schockiert davon“, sagt eine Frau. Sie sei in der DDR aufgewachsen und habe von der Arbeit der Stasi gewußt. Aber das Ausmaß konspirativer Wohnungsdurchsuchungen, Postdurchleuchtungen und die Pläne zu Isolierungslagern für Dissidenten haben sie überrascht. Bei den Ordnern mit Kopien von Stasiakten und Befehlen Mielkes bilden sich wachsende Grüppchen. Der Raum, in dem Schulungs- und Observationsvideos des ehemaligen MfS gezeigt werden, ist ständig überfüllt. Vollkommen gebannt betrachten die Besucher Bilder über die „Beobachtung von Punks“.

Am meisten verwundert viele Anwesende die Akribie, mit der die Stasi ihre Karteien führte. Maschinen, in denen zahllose Karteikästen rotieren, füllen einen Raum von der Größe einer Werkhalle. Dabei sind das nur die Namen mit den Buchstaben A bis K, erklärt eine Mitarbeiterin zwei Besuchern aus Potsdam. Sechs Millionen Karten führt das Zentralarchiv: Namen von Hauptamtlichen, Inoffiziellen Mitarbeitern und Bespitzelten. In den fünf neunen Ländern verwaltet die Gauck-Behörde insgesamt 32,5 Millionen dieser Karteikarten.

Im nächsten Jahr soll in Berlin ein großes Informations- und Dokumentationszentrum zur Staatssicherheit, dem „Schild und Schwert der Partei“, eröffnet werden. Ausstellungsleiter Ladwig warnt aber vor einem Fehlschluß: „Wichtig ist, daß das MfS ein Werkzeug und nicht die gesamte DDR-Geschichte war.“