Heimatlos im Jahr der Ratte

Schamanismus und Avantgarde: Sainkho Namtschylak stammt aus der sibirischen Steppe. Die Obertonsängerin verbindet mit ihren Improvisationen asiatische und westliche Einflüsse. Nur in Tuwa darf sie nicht mehr auftreten  ■ Von Waltraud Schwab

Die Leute in ihrer Heimat sagen, daß sie kein Kind mehr bekommen könne, weil sie wie ein Mann singe. Für Sainkho Namtschylak, die Stimmvirtuosin aus Tuwa, einer ehemaligen sowjetischen Republik an der Grenze zur Mongolei, schlägt so ein Satz tiefe Wunden. Geht es dabei doch um die Anerkennung für ihre Kunst, die sie sich überall holen kann, nur nicht da, wo die Quelle ihrer künstlerischen Arbeit ist: in den weiten sibirischen Steppen, wo Menschen noch bis vor kurzem als Nomaden lebten. Auch ihre Großeltern. Ein Land, dessen Geschichte von wechselnden Eroberungen geprägt ist, in dem buddhistische und schamanistische Traditionen sich bis heute erhalten haben.

Wer die Sängerin in Berlin hört, würde – im Gegensatz zu ihren Landsleuten – an alles denken, nur nicht an einen Mann. Diva, Stimmwunder, Zauberin, Paradiesvogel sind die Wörter, die durch die Rezensionen geistern. Inadäquate Bedeutungen verstecken sich dahinter allemal, deuten sie doch nur ein ganz kleines Spektrum ihres Gesangs ab. Überhaupt Gesang: Dieses Wort muß im Zusammenhang mit ihrer Kunst weit gedehnt werden. Töne so tief, daß sie direkt aus dem Erdinnern zu kommen scheinen und schrilles, hohes, moduliertes Aufschreien, das an die Schmerzgrenze geht, entlockt sie ihrem Körper gleichermaßen.

Dazwischen drängen sich sämtliche klanglichen Modulationen der verschiedensten Kulturen, in denen sie gelebt hat: Sibirien, Rußland, Westeuropa. Sechs Oktaven könne die nebenbei am Moskauer Konservatorium klassisch Gesangsgeschulte abdecken. „Dabei umfaßte meine Stimme am Anfang gerade mal eine Oktave.“

Als sie Anfang der neunziger Jahre mit dem Moskauer Trio „Tri'O“ in der westeuropäischen Improvisations-Szene auftauchte, schlug sie ein wie ein Komet. Mit einer Schallplatte – von Grateful Dead übrigens – als Kopfschmuck im Haar improvisierte sie den Kulturschock gurrend, zirpend, keuchend, kreischend, selten melodisch bewegt.

Für sie, wie auch für ihre Mitmusiker, mischten sich asiatische Klänge und Avantgarde-Strukturen problemlos mit Jazzfragmenten und klassischer Musik. Alle Töne, die nur irgendwie denkbar sind, werden in ihren Gesangscollagen zusammengebaut. Da kann Eingängiges zu hören sein, wie das Meer oder der Sturm, aber auch Gequietschtes, Gequetschtes, Rauhes und Glattes. Die Sängerin, die den spirituellen Traditionen ihres Landes verbunden geblieben ist, sagt: „Wenn ich den Wind singe, bin ich Wind. Wenn ich das fließende Wasser singe, bin ich fließendes Wasser.“ Das erlaubt keinen Widerspruch.

Sainkho Namtschylaks Gesang ist nicht unwesentlich beeinflußt von Vokalartistinnen wie Meredith Monk, Laurie Anderson und Diamanda Galas, gleichzeitig aber wirken ihre Rückgriffe auf traditionelle Gesangstechniken ihres Heimatlandes wie das I-Tüpfelchen des Exotischen.

Die Tuwenserin beherrscht den Obertongesang. Eine Stimme produziert dabei gleichzeitig zwei, gelegentlich sogar drei klar zu unterscheidende Töne. Es klingt, als kreise der Ton im Raum. Dafür wird sie im westlichen Musikbusiness bejubelt und in ihrer Heimat beschimpft, denn Obertongesang ist dort Männersache. „Würde ich dort so singen, wäre ich in echter Gefahr. Nicht, daß sie mich umbringen würden, aber es könnte unangenehm werden.“

Seit Jahren tritt die Sängerin vor allem im Duett mit den verschiedensten Solisten auf. Mit Perkussionsbegleitung wegen der Nähe zu schamanistischen Traditionen, sagt sie; besonders gut passe ihre Stimme aber zum Saxophon. Die schattierende Klangfarbe des Instruments und die für osteuropäischen Gesang typischen mikrotonalen Verschiebungen verschmelzen zu einem harmonischen Dialog.

Während sie früher nahezu ausschließlich experimentell gearbeitet hat, ist sie mit ihrem Gesang in den letzten zwei Jahren ihren Wurzeln wieder nähergekommen. Dabei, so einer ihrer Komusiker, Ned Rothenberg, mache sie trotzdem „sehr, sehr neue Musik“. Sie kopiere nicht, sie kreiere durch Neues Erinnerungen an das Bekannte.

Transzendenz ist das Stichwort. Sainkho Namtschylak erlebt, was sie singt. Ihren Schmerz schreit sie heraus, als wolle sie stellvertretend für die Zuhörer leiden. Wer sie aber in einem Moment gesungener Heiterkeit erlebt, dessen Gemüt hellt sich auf. Sich selbst sieht die 39jährige ohne Heimat in einer schwierigen Phase des Neubeginns, denn mit dem neuen Jahr des chinesischen Kalenders, dem Jahr der Ratte, beginnt ein neuer zwölfjähriger Zyklus, und das verheißt Umwälzung, Ungewißheit und Irritation.

Am Montag, 25.3., und am 1.4., jeweils 20 Uhr im Podewil, Klosterstraße 68–70, Mitte