„Total unter Spannung“

■ Die Funktürme von Vollersode: Telekom, Mannesmann und Bundeswehr / Verursachen ihre magnetischen Strahlen Hirntumore? Einwohner klagen ohne Erfolg

Die Orte tragen so friedvolle und freundliche Namen wie Hüttenbusch, Friedensheim oder Vollersode. Doch der Friede ist dahin. Seit einigen Jahren fühlen sich die Bewohner der Gegend am Rand des Teufelsmoores, 35 Kilometer nördlich von Bremen, nicht mehr wohl in ihrer Haut. Manche klagen über rätselhafte Schlafstörungen, andere betrachten Kofschmerzen als Alarmzeichen. Die Leute fühlen sich, liest man auf Flugblättern, „total unter Spannung“. Anfang des Jahres starb ein kleines Mädchen aus Friedensheim. Es hatte einen Gehirntumor. Seit 1981 sind in und um Vollersode überdurchschnittlich viele Menschen an Gehirnkrebs erkrankt. Zehn sind schon tot. Für die Einheimischen hat die Bedrohung einen Namen: Strahlen.

Frau Kutz zeigt auf eine Landkarte. „Das ist der Radarturm der Bundeswehr. Hier ist der D2-Turm von Mannesmann. Da ist der Postturm. Und hier, die roten Nadeln, das sind die Gehirntumore.“ Es gibt 15 rote Nadeln. Sie stecken alle im Nahbereich der Funktürme. Familie Kutz wohnt direkt hinter der Hawk-Stellung der Bundeswehr. Hier wird geübt, herannahende Tiefflieger mit Radar zu erfassen. Wer einen Raum von 100 Kilometern überwachen will, braucht ein sehr leistungsfähiges Radar. Entsprechend sind die elektromagnetischen Felder, die hierbei erzeugt werden.

Frau Kutz erinnert sich: Vor vier Jahren starb ein guter Freund, erst 33, an Gehirntumor. August krank, November tot. Ihr Mann, Vollersoder Landarzt, begann, Karteikarten zu studieren. Die Zahl der Krebsfälle kam ihm ziemlich hoch vor. Im Dorf fing man an zu reden. Es entstand eine Bürgerinitiative der Besorgten. Man wollte wissen: Was ist los mit den Türmen? Schaden uns die Strahlen?

Im letzten Jahr lief das Faß über. Mannesmann wollte für sein D2-Netz einen weiteren Turm errichten. Dr. Kutz und seine Mitstreiter rotierten: Schrieben an Politiker, fragten Wissenschaftler, malten Diagramme. Zum Beispiel Hirntumor im internationalen Vergleich. Basel? Eindhoven? Krakau? Vollersode lag drei Mal so hoch. Noch drastischer fiel der Vergleich mit dem Saarland aus, das als einziges der alten Bundeländer ein Gehirntumor-Kataster führt. Und auch wenn man in die Nachbargemeinden schaute, konnte man beeindruckende Balkendiagramme bekommen. Vollersode liegt um den Faktor vier über seinen Nachbarn, betrachtet man die Zahl derer, die an Tumoren des Zentralnervensystems gestorben sind.

Die Bürgerinitiative erreichte immerhin, daß mal gemessen wurde. Die Telekom und Mannesmann machten aufwendige Messungen, um, wie erwartet, herauszubekommen, daß die Belastungswerte innerhalb der Norm DIN VDE 0848 Teil 2 liegen. Außerdem verwies man auf Gutachten. Die Vollersoder verwiesen auf ihre Balkendiagramme. Doch der Mannesmannturm wurde gebaut. Zwei Eltern mit kleinen Kindern klagten vor dem Verwaltungsgericht Stade. Die Klage wurde vor zwei Wochen abgewiesen. Jetzt gehen sie in die Revision. Geldsorgen brauchen sie nicht zu haben: Die Spendenbereitschaft unter den Vollersodern ist groß.

Niemand kann heute sagen, wie schädlich verschieden starke elektromagnetische Strahlen verschiedener Frequenz sind. Ob es Langzeiteffekte gibt, gegenseitige Beeinflussungen unterschiedlicher Strahlen. Der Bauamtsleiter des Kreises Osterholz-Scharnbeck, in dessen Zuständigkeit der Mannesmann-Turm fällt, bezeichnete dessen Abstrahlung als unschädlich „nach dem Stand der Technik“. Der aber ist nicht sehr hoch. Messungen sind sehr teuer; eine epidemologische Untersuchung Vollersodes würde 500.000 Mark kosten. Daß es Auswirkungen solcher Strahlen, besonders der energiereichen „pulsierenden“ Strahlen der Radarstation, auf Menschen gibt, ist unbestritten. Doch welche Dosen in welcher Entfernung sind verträglich?

Als der Turm fürs D2-Netz gebaut wurde, gab es Zwischenfälle auf der Baustelle. Material verschwand, eine Pumpe wurde demontiert, plötzlich hingen Plakate: „Sendet Ihr von hier mit Eurem D2, schlagen auch Eure Wellen unser Erbgut entzwei.“ Mit solchen Aktionen wollen die Vollersoder nichts zu tun haben. Vollersode ist ein kleiner Ort, drei Kneipen, zwei Läden, man sieht sich jeden Tag und muß miteinander auskommen.

Frau Kutz ist nach der juristischen Niederlage etwas resigniert. Sie beherzigt den Tip des Kommmandanten der Radarstation, der die besorgten Bürger mal eingeladen hatte: Wenn Übung ist, hinters Haus gehen! Oder in eine Senke ducken. Meist „verkrümelt man sich ins Haus“. Andere Nachbarn schaffen sich jetzt privat Meßgeräte an. Und wieder andere, zum Beispiel Leute aus der sog. „Funksiedlung“, kämpfen dieser Tage per Unterschriftenliste für eine Senkung der Grundsteuer. Der Wert ihrer Häuschen ist in den Keller gegangen. Wer will denn noch freiwillig nach Vollersode ziehen? BuS