: „Die Vergangenheit aufarbeiten ist schwer“
■ Der tschechische Historiker Jan Křen über tschechische Sichtweisen der „sudetendeutschen Frage“ und die Krise in den deutsch-tschechischen Beziehungen
taz: In letzter Zeit wird viel über die geplante deutsch-tschechische Deklaration gesprochen, die einen „Schlußstrich“ unter die Vergangenheit ziehen soll. Ist so ein Schlußstrich überhaupt möglich und wünschenswert?
Dr. Jan Křen: In der Politik und den Rechtswissenschaften ist dies sicherlich möglich. Doch Historiker können keinen Schlußstrich ziehen. Die Vergangenheit muß man permanent aufarbeiten, jede Generation hat neue Fragestellungen. Allerdings ist es für uns hier in Tschechien immer noch schwer, die Vergangenheit „aufzuarbeiten“. Für die „Deutsche Frage“ gibt es so gut wie keine Fachleute. Als ich nach 1989 an der Prager Karlsuniversität eine Vorlesung über deutsche Geschichte hielt, war das eine Premiere.
Aber die Vertreibung der Sudentendeutschen ist doch inzwischen ein Dauerthema in den tschechischen Medien.
Die Vertreibung war auch in der kommunistischen Ära kein vollständiges Tabuthema, sie wurde nur ziemlich deformiert dargestellt. Nach 1989 besuchten dann die meisten Geschichts- und Deutschlehrer Weiterbildungskurse. Was fehlt, ist Literatur. Erst jetzt ist zum ersten Mal auf tschechisch eine Geschichte Deutschlands erschienen. Noch nie wurde von tschechischen Historikern eine Geschichte Deutschlands geschrieben – über alle anderen Nachbarländer existiert eine. Wahrscheinlich liegt das auch daran, daß früher alle Intellektuellen deutsch zumindest lesen konnten. Heute ist das anders. Nur die älteste und die jüngste Generation spricht deutsch; dazwischen sieht es schlecht aus. In den nächsten drei bis fünf Jahren soll endlich eine deutsche Geschichte aus den Federn tschechischer Historiker geschrieben werden – also aus tschechischer Sicht. Zudem: Es gibt noch nicht mal Experten für die deutsche Wirtschaft.
Im Tschechischen wird für die Vertreibung zumeist der Begriff „odsun“ verwendet, was soviel wie Abschiebung heißt, im Deutschen dagegen überwiegt der Begriff Vertreibung. Welcher Begriff ist Ihrer Meinung nach angemessen?
Zu Beginn der Arbeit der deutsch-tschechischen Historikerkommission haben wir uns darauf geeinigt, beide Termini zu benutzen. Denn die beiden Begriffe decken alle Prozesse, die mit der Austreibung der Tschechen aus dem Grenzland im Herbst 1938, der Flucht der Deutschen am Ende des Krieges und mit dem Transfer zusammenhängen. Der tschechischen Öffentlichkeit ist heute klar, daß die Geschichte der Abschiebung nicht so schön war, die Öffentlichkeit kennt die Exzesse, zu denen es kam. Wahrscheinlich weiß die tschechische Öffentlichkeit bereits mehr über die Schattenseiten dieser Prozesse als die sudetendeutsche. Die deutschen beziehungsweise sudetendeutschen Darstellungen bewegen sich immer im Kreis ihres eigenen Leides. Das Leid der anderen kennen sie nicht, das sehen sie nicht.
Außenminister Kinkel hat die Gültigkeit des Potsdamer Abkommens bezweifelt. Welche Konsequenzen hat das?
Für mich war die Öffnung dieser Frage von deutscher Seite – ich muß es offen sagen – eine unangenehme Überraschung. Die Potsdamer Beschlüsse sind doch keine deutsche Niederlage, sondern der Beginn der deutschen Demokratie. Die deutsche Bevölkerung war nach der Kapitulation nicht zu einer demokratischen Entwicklung aus eigener Kraft fähig. Dazu brauchte man die Hilfe der Alliierten. Ohne Potsdam hätte es nicht zur Demokratie in der Bundesrepublik kommen können.
Kinkel hatte doch die Passagen über die Vertreibung im Sinn.
Die Entscheidung über die Vertreibung fiel im Grunde schon im Kriege. In Großbritannien entstand diese Idee 1940. Exilpräsident Beneš wurde von den Engländern unter Druck gesetzt, weil er sich den Transfer in dieser Form nicht vorstellen konnte. Die Potsdamer Beschlüsse haben also sozusagen nur den Zustand anerkannt. Die alliierten Mächte kamen zu dem Schluß, daß das Versailler System des Minderheitenschutzes versagt hat. Und auch die Vertreter des tschechoslowakischen Untergrundes waren der Ansicht, daß ein Zusammenleben mit den Deutschen unmöglich ist. Interview: Karin Bock
Jan Křen ist Vorsitzender des tschechischen Teils der Deutsch- Tschechischen Historikerkommission. Gestern wurde ihm ihn Weimar die Goethe-Medaille des Goethe-Instituts verliehen.
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