: Zittern vor dem kollektiven Rinderwahn
Die jüngsten Berichte aus London über die Übertragbarkeit von Rinderwahnsinn auf den Menschen haben weltweit Entsetzen ausgelöst. Heute entscheidet die Europäische Kommission in Brüssel über ein EU-weites Importverbot. Doch die Wege der britischen Rinder sind verschlungen und oft unergründlich. Experten fordern bereits ein Importverbot für Arzneimittel aus Großbritannien. Und auch die Genießer von Gummibärchen leben gefährlich.
Sind unsere Kinder die einzigen auf der ganzen Welt, die britisches Rindfleisch essen?“ Das fragte am Samstag der englische Independent. Nachdem zwölf Länder der Europäischen Union sowie die USA, Australien, Japan und Südafrika einen Importstopp für britisches Rindfleisch verhängt haben, scheinen die BritInnen die einzigen, die ihr Beef noch nicht aus dem Kochtopf verbannt haben. Heute entscheidet der Veterinärausschuß der Europäischen Kommission in Brüssel, ob ein EU- weites Embargo verhängt wird. Doch würden dadurch EU-Länder vom Erreger des Rinderwahnsinns verschont bleiben?
Britisches Rindfleisch kennt viele Wege. Obwohl der Rinderwahnsinn seit Ende der achtziger Jahre Schlagzeilen macht, haben sich die britischen Rindfleischexporte in den vergangenen fünf Jahren mehr als verdoppelt. Gingen 1990 nur 114.000 Tonnen ins Ausland, waren es 1995 schon 248.000 Tonnen. Hauptabnehmer ist Frankreich mit 80.000 Tonnen, gefolgt von Italien mit 42.000 Tonnen – im Vergleich zu 4.000 Tonnen im Jahr 1990. Insgesamt gingen im letzten Jahr 191.000 Tonnen britisches Rindfleisch in andere EU-Länder. Dem wäre durch einen Importstopp ein Riegel vorgeschoben.
Doch immerhin 57.000 Tonnen gehen in Nicht-EU-Staaten. Südafrika, das 1995 knapp die Hälfte davon abnahm, hat ebenfalls einen Importstopp verhängt, ebenso Singapur, Neuseeland und einige andere Länder. In Osteuropa hat allerdings bisher kein einziges Land darauf reagiert, daß die britische Regierung in der vergangenen Woche eine mögliche Verbindung zwischen Rinderwahn und dem beim Menschen auftretenden Creutzfeldt-Jakob-Syndrom (CJS) einräumte.
Bereits vor drei Jahren hatte die taz nachgewiesen, daß britische Rinder häufig ihren Paß wechseln: Englische Rinder, die in die Niederlande und nach Frankreich exportiert wurden, landeten als holländisches oder französisches Rindfleisch in den Regalen deutscher Supermärkte. Ähnliches gilt für osteuropäische Länder.
Vor zwei Jahren „verschwanden“ rund 100.000 britische Rinder vom Markt. Ein Großteil tauchte in Irland wieder auf, und wurde von dort ohne Exportauflagen in die weite Welt verfrachtet. Das wies die „Vereinigung nordirischer Fleischexporteure“, der durch den illegalen Grenzverkehr erheblicher Schaden entstand, mit einem mit versteckter Kamera gedrehten Film nach.
Irland ist auch das einzige EU- Land, das auf die Nachricht einer möglichen Übertragbarkeit des Rinderwahnsinns auf Menschen mit Gelassenheit reagiert hat. Getreu dem historischen Motto, daß Großbritanniens Probleme Irlands Chancen seien, erhofft man sich nun eine Steigerung irischer Rindfleischexporte ins Unermeßliche.
Diese Hoffnung hat allerdings einen Dämpfer bekommen. Der gute Ruf irischen Fleisches war vor allem darauf begründet, daß man stets die gesamte Herde tötete, sobald ein einziger BSE-Fall auftrat. Bisher sind 123 Kühe und ein Stier an der Krankheit eingegangen. Jetzt hat sich jedoch herausgestellt, daß lediglich diese Tiere aus dem Verkehr gezogen wurden. Der Rest wanderte in die Kochtöpfe.
Und mit den Kochtöpfen ist es nicht getan: Die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände (AGV) in Bonn fordert deshalb auch nicht nur ein generelles Einfuhrverbot für britisches Rindfleisch seitens der EU, sondern auch einen Importstopp für Arzneimittel und Kosmetika, die Rohstoffe aus britischen Rindern enthalten. Hirn, Knochenmark und Nervenstränge von Rindern werden in der Medizin vielseitig verwendet. Der AGV-Präsident Heiko Steffens: „Deshalb ist zu befürchten, daß Arzneien möglicherweise ein größerer Gefahrenherd sind als das Rindfleisch.“ Nur ein EU-weites Verbot könne auch die Schleichwege versperren, sagte Steffens.
Doch auch das ist keineswegs sicher. Man nehme zum Beispiel britisches Tierkörpermehl. Dieses Kraftfutter zur Erhöhung der Milchproduktion, das den Erreger der Schafkrankheit Scrapie enthielt, soll für den Rinderwahn verantwortlich sein. Zwar ist der Export in EU-Länder verboten, doch außerhalb der EU ist man nicht so pingelig. Dadurch besteht die Gefahr einer fortlaufenden Verbreitung der Krankheit. Auch in Großbritannien sind BSE-Fälle bei Rindern aufgetreten, die nach 1989 geboren sind – dem Jahr, als die Fütterung mit Tierkörpermehl eingestellt wurde. Es muß also noch andere Übertragungswege geben.
Und was ist mit Gelatine, einem wichtigen Grundstoff für Süßigkeiten – beliebtestes Beispiel: Gummibärchen – und Pharmazeutika? Auch dort ist ein Risiko nicht auszuschließen. Man weiß, daß der BSE-Erreger nur abgetötet werden kann, wenn man ihn bei erhöhtem Druck 20 Minuten lang auf 133 Grad erhitzt. Bei der Herstellung von Gelatine, die aus zerkleinerter Haut und Knochen von Rindern gewonnen wird, steigt die Temperatur nicht über 90 Grad. Auch in Frischzellen und Suppenwürfeln kann der Erreger theoretisch überleben, selbst bei der Milch ist es nicht auszuschließen – wenn auch in sehr geringer Konzentration.
Welche Dosis für Menschen ansteckend ist, ob noch andere Voraussetzungen für eine Infektion vorliegen müssen – all das sind offene Fragen. Bis man Entwarnung geben kann, werden Jahre vergehen. Aus Vergleichen mit Kuru, einer ähnlichen Krankheit aus Papua-Neuguinea, die durch das rituelle Verspeisen Verstorbener übertragen wurde, vermutet man, daß die Inkubationszeit bei durchschnittlich zwölf Jahren liegt. Demnach hätten sich die zehn Menschen, die seit 1994 an dem neuen CJS-Typ gestorben sind, Anfang der 80er Jahre infiziert. Der Höhepunkt der BSE-Epidemie kam jedoch erst zehn Jahre später, erste Vorsichtsmaßnahmen wurden erst Ende der 80er eingeführt. Hinzu kommt, daß der Rinderwahn in Großbritannien zwar seit 1988 meldepflichtig ist, die Bauern aber erst seit Februar 1990 Schadensersatz erhalten. Wer bis dahin seine kranke Kuh den Behörden meldete, mußte rund 2.000 Mark abschreiben. Kein großer Anreiz für Ehrlichkeit. Ralf Sotscheck, Dublin
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