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Mit Freddy nach Niederbayern

■ Premiere in Bremerhaven, Stadttheater Großes Haus: Martin Sperr inszeniert seine „Jagdszenen aus Niederbayern“

Drei Jahrzehnte nach der Bremer Uraufführung inszeniert Martin Sperr seine „Jagdszenen aus Niederbayern“ am Stadttheater zum ersten Mal selber. Schon vorher war die bange Frage gestellt worden, ob die Ausgrabung dieser Jagdszenen mit ihren satirisch überzeichneten Stammtisch-Deutschen mehr sein könnte als pure Nostalgie. Eine Erinnerung an ein Theater, wie es 1966/67 einmal werden wollte. Nun behaupten Martin Sperr und sein Co-Regisseur Hans Melzer, in den letzten 30 Jahren habe sich an der Jagbarkeit des Menschen und an der Lust zur Menschenjagd wenig geändert. Ihre Inszenierung verzichtet auf fast alle spektakulären Effekte und auf jede vordergründige Aktualisierung. Mit einer ungewöhnlich dichten Ensemble-Leistung präsentieren sie das Stück wie einen modernen Klassiker, eine Mischung aus „Woyzeck“ und „Andorra“. Aber das Frühwerk, das ein wilder 17-jähriger mit Wut im Bauch geschrieben hat, behält immer noch etwas eigenes: Daß ein Schwuler im Zentrum eines Dramas steht, statt im goldenen Transvestiten-Käfig den glitzernden Narren zu spielen, ist erst mit Tony Kushners „Engel in Amerika“ selbstverständlich geworden. Aber was ist mit den Jugendlichen, die zum ersten Mal ihre Neigung zum eigenen Geschlecht entdecken und alles tun, um ihr Geheimnis vor dem befürchteten Gelächter Gleichaltriger zu verbergen? In dieser Hinsicht wirken die Jagdszenen überraschend wenig überholt.

Stephan Szasz als schwer verhaltensgestörter Junge, der sein Liebesverlangen bei Abram stillt, wird vom Autor-Regisseur in eine kaum lösbare Zwickmühle getrieben: Mal muß er einen geistig Behinderten spielen und hündisch am Boden kriechen, in Abrams Gegenwart taut er auf und redet wie ein Erwachsener. So intensiv und spannungsgeladen wird in Bremehaven selten gespielt. Wolfram Rupperti spielt den unglücklichen Abram angenehm zurückhaltend, wie ein etwas fremdgewordenes Zitat aus älteren Zeiten. Christel Leuner als seine Mutter zieht alle Register ihrer überragenden Schauspielkunst: Sie ist eine gebrochene, aber stets beherrschte Frau, die hin- und hergerissen wird zwischen Mutterliebe und Haß auf das mißratene Kind, zwischen Unterwerfung unter die Dorfgemeinschaft und unausgesprochenen Schuldgefühlen. Ingrid Müller-Farny gibt der verlassenen, schwangeren Freundin Tonka Züge von anrührender Hilflosigkeit. Der fast leere Bühnenraum ist von einer hohen marmorfarbenen Kirchenmauer begrenzt, davor ein Platz mit wenig Bänken, gelegentlich ein Steg am Wasser oder ein puppenstubenähnliches Zimmer. Das Regie-Team überbrückt die Szenenwechsel mit kurz angeschnittenen Seemannsliedern von Freddy Quinn bis Lale Andersen, dem Caprifischer-Schmalz der frühen Wirtschaftswunderjahre. Über Einzelheiten dieser Inszenierung läßt sich streiten, auch darüber, ob die Jagdszenen eine Ausgrabung wert sind, aber daß die DarstellerInnen (allen voran Iris Heuchert, Antonia Gottwald und Kay Krause) in den Ensemble-Szenen selten so präsent gesehen wurden, muß doch einen Grund haben. Vielleicht sitzt diese Hetzjagd der Stammtisch-Deutschen, diese Häme und Bosheit von vorgestern, doch noch allen in den Knochen?

Hans Happel

Stadttheater Großes Haus, Martin Sperr: „Jagdszenen aus Niederbayern“, weitere Aufführungen: 29.3./5.4./17.4./21.4./25.4. und 30.4.

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