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Der Wahnsinn der „Transthüringia“

Wenn Bankdirektoren aussteigen: In Alaska und Kanada sind „Iditarod“-Rennen und „Yukon Quest“ gelaufen, und auch die Schlittenhundesportler in Berlin und Brandenburg beenden langsam ihre Saison  ■ Aus Berlin Ortrud Rubelt

„Fünf, vier, drei, zwei eins, go! Gut mush, Wolf-Dieter!“ tönt es über den Startplatz. Wo noch eben mehrere Männer und Frauen Hunde am Halsband festhielten, kniend den Leithund beruhigend kraulten, das ungestüme Zerren an den Leinen zu bändigen versuchten, von nervösem Bellen umtost, ist jetzt Ruhe. Die Huskies rennen – zwei, vier, fünf, sechs bis neun Hunde im Gespann – den Waldweg entlang, hinter sich, auf einem vierrädrigen, eisernen Wagen stehend ihr Musher, der Führer, oder immer häufiger, die Führerin. Vom Rand der Rennbahn, hier Trail genannt, werden die Hunde von Zuschauerinnen und Zuschauern angefeuert. Und sie laufen dem Wald entgegen. Ohne Zügel geleitet, ohne Peitsche motiviert, nur gebremst durch die Leinen, an denen der Wagen hängt, allein durch Zurufe geführt: „Links, Beewer; geradeaus“ – oder Quinto, Fighty, Kajok. Die wolfsgrauen, braunroten oder weißen Hunderücken heben und senken sich im Rhythmus des gestreckten Galopps; die schrägen Augen in den spitzähnlichen Köpfen blitzen blaugrün; die offenen Mäuler hecheln.

Längst laufen sie ohne aufgeregtes Gebell, im noch verschneiten Harz, hier am Frauensee bei Königs-Wusterhausen nahe Berlin, vor Spezialwagen auf tauendem Waldboden, mit Geschwindigkeiten von 40 Kilometer die Stunde. In etwa 20 Minuten werden sie die knapp sieben Kilometer lange Strecke durchlaufen haben – wenn sie nicht am Hang ins Gehen fallen, nicht die Richtung verwechseln und den Wagen in der Kurve vor den Baum setzen oder, wie heute die drei Hunde von Lutz, ohne Führung ihrer Leithündin lieber den Vögeln lauschen und Sträucher entdecken. Dann ist kein Pokal mehr zu gewinnen.

65 Starter, darunter 19 Kinder, kämpfen heute in acht Wertungsklassen um den Team-Cup des Trail Club Brandenburg (TCB) und den Pokal der ersten Brandenburgischen Jugendmeisterschaft. Und es ist die letzte Chance in dieser Saison, einen großen Topf zu gewinnen, denn die Zeit der Schlittenhunde-Sportrennen geht auch in Berlin und Brandenburg zu Ende. Es ist die Zeit, in der die Hobbysportler in den Alpen die Longtrails (60 Kilometer) räumen und in Alaska und Kanada die Sieger des härtesten aller Rennen, des 1.600 Kilometer langen „Yukon Quest“, und die des legendären „Iditarod“-Rennens (1.865 Kilometer) die dicken Preisgelder einstreichen.

Damit zieht sich bei uns auch der Treck der Schlittenhundesportler mit Hunden, Caravans, Geländewagen und Transportanhängern bis zum Herbst zurück. Sie sind ein besonderes Völkchen, diese Schlittenhundesportler. In einer Zeit, da Hunde unter Züchterhänden verkrüppeln und immer mehr als Schoßhund, Waffe oder Statussymbol ihr Leben fristen, widmen sie sich leidenschaftlich dem Artenschutz des ursprünglichsten und wolfsähnlichsten Hundes. In Berlin-Brandenburg kommen sie aus allen Berufsgruppen, doch die meisten sind Handwerker. Voraussetzung für den Sport sind immerhin etwa 12.000 Mark Anfangskapital.

Geht man durch eines ihrer Camps, spürt man, was sie alle verbindet: die Liebe zu diesen eigensinnigen und zugleich verschmusten Nordland-Hunden. Die als „Schlittenhunde“ in ihren Rassestandards international kontrollierten Tiere setzen sich aus vier Rassen zusammen: dem Siberian Husky, dem Alaskan Malamute, dem Grönlandhund und dem Samojeden. Sie sind generell menschenfreundlich, aber nie sklavisch untergeben. „Ich und der Chef“ ist ihr Lebensprinzip. Bereits die Eskimos förderten ihre Freundlichkeit Menschen gegenüber durch die rigide Auslese aggressiver Hunde. So blieben sie selbständig, robust, neugierig und bewahrten den Bewegungsdrang, der die Grundlage des Sports mit ihnen bildet.

Diese Eigenschaften entstanden beim sibirischen Husky im Laufe der Jahrhunderte als lebenswichtiger Begleiter der Menschen in der Taiga und den Tundren Sibiriens; der Malemute, der größte, wolfsfarbige Hund, wurde von den Malamuit-Eskimos aus dem Yukongebiet in Alaska gezüchtet. Die bräunlichen Grönlandhunde stehen im Ruf eines verläßlichen Begleiters von Polarforschern, die viel Einfühlungsvermögen verlangen. Der hier seltene weiße, langfellige Samojede ist Begleiter des gleichnamigen Nomadenvolkes zwischen Ural und Jenisseifluß.

Und wie die Hunde, so auch ein bißchen die Menschen: halb Jack- London-Verschnitt, halb deutscher Camping-Fan. Halb knorriger Idealist auf der Suche nach Harmonie von Mensch und Natur, halb emphatisch Sehnsüchtiger nach dem Rausch der Wildnis. Tierliebe Beinahe-Aussteiger aus dem hochtechnisierten, sauberen Großstadtalltag. Der ehemalige Westberliner Andreas mit seinen sechs Samojeden schwärmt von der „unheimlich lieben Art“ seiner Hunde und den einsamen Schlittenfahrten im Schnee. Für Astrid aus Celle ist es das Wölfische an ihren vier Huskies, das sie liebt, und dieses „Wahnsinnsgefühl“ auf dem Trail. Das Ehepaar Simon und ihre drei Kinder aus Wittenberg schwärmte schon zu DDR-Zeiten von diesen Hunden und erfüllte sich einen Traum. Mit fünf Huskies sind sie seit der Wende aktiv. Für die Fahrten zu weit entfernten Rennen gibt der Chef auf Arbeit sogar Sonderurlaub. Für Wolf- Dieter Polz, Erster Präsident des TCB und Schlittenhundesport- Pionier, ist es der Ausgleich zum normalen Leben als Bankdirektor und die Möglichkeit, den Traum vom Aussteigen wenigstens ein kleines Stück zu leben.

An den Musher-Abenden zwischen den beiden Renntagen schwärmen sie nicht von Kanada und Alaska, sondern von der thüringischen „Transthüringia“ und den Trails in Tirol. Und es werden immer mehr. Waren es Anfang der siebziger Jahre, als Wolf-Dieter Polz begann, höchstens zehn oder zwanzig Gespanne im Bundesgebiet, gibt es allein in den beiden Berliner und Brandenburger Verbänden jetzt knapp 200 Mitglieder und insgesamt 20 Vereine.

Im Sommer werden sich die Hunde vor der Hitze in die Erde verbuddeln, und der Gartenschlauch wird den Yukon-River ersetzen müssen. Ab Oktober geht's dann wieder los, dann laufen sie wieder. Theresa Simon, zehn Jahre, will endlich den ersten Platz beim Kinderrennen machen. Herr Polz wird nach 25 Jahren vielleicht mit feuchten Augen einen blitzenden Jubiläumspokal entgegennehmen. Astrid wird's den Siegerinnen des Iditarod-Rennens nachmachen, und Lutz' Rüden werden mit ihrer Leithündin nie mehr Sträucher beschnuppern dürfen, wenn sie irgendeinmal gewinnen wollen.

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