Vorahnungen des Kommenden

■ Warnende Kassandra: Die Historikerlegende Eric Hobsbawm besuchte Hamburg

In den USA ist das mit den Autorenlesungen eigentlich anders. Wenn dort Bücher der Öffentlichkeit vorgestellt werden, dann handelt es sich gewöhnlich um Gedichte oder Geschichten, kaum aber um Sachthemen oder gar Wissenschaft – so sprach Eric Hobsbawm zu Beginn seiner Buchpräsentation. Trotz dieses Vorbehalts war der Historiker am Mittwoch einer Einladung der Heinrich-Heine-Buchhandlung und der Uni Hamburg gefolgt, um aus seinem neuen Buch Das Zeitalter der Extreme zu lesen.

Ganz im Sinne seines Vorbehalts wollte der „alte Marxist“, als der er sich selbst bezeichnet, allerdings auch nicht nur die wissenschaftlich penibel vermessene Klassikerstrecke ablaufen, sondern engagiert Zeugnis ablegen von einer Haltung, die sich dem Pathos von Aufklärung, Kritik und Veränderung immer noch verpflichtet weiß.

Hobsbawms Buch handelt von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Diese für einen Historiker ungewöhnlich gegenwärtige Perspektive versteht sich als eindringliche Warnung vor der „Zerstörung der Strukturen menschlicher Gesellschaft einschließlich der sozialen Grundlagen kapitalistischer Ökonomie“. In der Sicht Hobsbawms befinden wir uns, nach dem Zeitalter des „31jährigen Krieges“ von 1914 bis 1945 und dem darauf folgenden „Goldenen Zeitalter“ bis 1975, längst in der Krise. Er verzeichnet einen massiven Abbau der zivilisatorischen Standards, einen Rückfall in längst vergangen geglaubte Barbarei. Eine Vorahnung des Kommenden geben jetzt schon Massenarbeitslosigkeit und Umweltzerstörung, aber auch die dummdreiste Einmischung der Ökonomie in sozialstaatliche Angelegenheiten – als ob es nicht im Interesse eines Unternehmers (vulgo: Kapitalisten) läge, in erster Linie Gewinne zu machen oder sich lukrativ zu verschulden. Konkurrenz, so Hobsbawm, sei nicht das Prinzip des Fortschritts, sondern bedeute sehr viel unmittelbarer einen steten Verlust jeglicher Art von Ressourcen –irreversibel.

Vor diesem Hintergrund entstehen für Hobsbawm die gegenwärtigen Herausforderungen. Die nationalstaatliche Einheit, immerhin auch Produkt der bürgerlichen Emanzipation, verschwindet in der Globalisierung des Kapitals. Damit emanzipiert sich die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft von einer ihrer Durchsetzungsformen, mithin von sich selbst. Das ist nicht unbedingt ein Verlust, doch stellt sich dann die Frage neu, wie eine sozialstaatliche Souveränität ohne die Rückkehr zu nationalistischem Dünkel (Sozialneid, Ausländerfeindlichkeit, Militarismus, Imperialismus) möglich ist. Wenn die sogenannte freie Marktwirtschaft der Regulation bedarf, und zwar nicht als einer ihr äußerlichen, sie drangsalierenden Instanz, sondern um als ökonomische Struktur der eigenen Idee nach überhaupt funktionieren zu können, dann liegen hier auch die Möglichkeiten einer Neuformulierung des Politischen.

Hobsbawn bescheinigte Marxens Manifest der Kommunistischen Partei, daß es mehr Aspekte unserer heutigen Wirklichkeit prognostiziert habe als wir denken. Andererseits gesteht er sofort zu, daß der real existierende Sozialismus nicht im Sinne seines Erfinders war. Tja, mit diesem Paradox müssen Marxisten halt leben. Jenseits davon aber würde es – so Hobsbawms Fazit – um eine neue politische Ökonomie gehen, die als erstes der Illusion des Fortschritts, diesem unheilvollen Imperativ, an dem auch der Marxismus in seinen vielfältigen Lesarten noch partizipiert, entsagt hätte.

Christian Schlüter