"Ich habe nichts verschwiegen"

■ Interview mit Ljubomir Schindarow, der für seine Politik nach dem GAU zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde. Er war 1986 stellvertretender Gesundheitsminister Bulgariens

taz: Herr Schindarow, das Oberste Gericht Bulgariens hat Sie zu einer Haftstrafe verurteilt, weil Sie der bulgarischen Bevölkerung die Katastrophe und die Folgen von Tschernobyl vorsätzlich verschwiegen haben.

Ljubomir Schindarow: Nein, ich habe nichts verschwiegen. Die Regierungskommission, deren Vorsitzender ich war, hat nach dem Unfall durch ihre Bezirkskommission tagtäglich alle Arten von Messungen vorgenommen. Die Bezirkskommissionen waren verpflichtet, aufgrund ihrer Messungen Maßnahmen auszuarbeiten, die an die Regierungskommission geschickt werden mußten. Die hat sie dann genehmigt und entsprechende Anweisung zur Durchführung dieser Maßnahmen gegeben. Hunderte von Menschen waren in dieses Netz eingebunden, um die Naturkatastrophe zu überwinden, sowohl führende Vertreter der Exekutive als auch Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Diese Kommissionen haben nichts verheimlicht, sondern ihre Maßnahmen durchgeführt. Die sind bei jedem einzelnen Staatsbürger angelangt.

Das ist bei den Menschen offenbar nicht angekommen. Ist es möglich, daß Befehle von oben nicht ausgeführt wurden?

Es gibt einen Unterschied, wie die Informationen in einem kapitalistischen oder in einem sozialistischen Staat wie unserem Bulgarien verbreitet werden. Im Westen verbreiten Massenmedien die Informationen. Bei uns ist das auch geschehen, aber nicht in geringerem Maße. Bei uns wurden die Informationen in der Reihenfolge von oben nach unten verteilt, wie durch einen Kanal. Die Informationen gelangten zu denen, für die sie bestimmt waren. Wir haben damals keinerlei Rückinformationen bekommen, daß etwas nicht erfüllt wurde. Vielleicht ist man irgendwo nicht richtig aktiv geworden, darüber haben wir aber keine Informationen.

Warum hat das Gericht Sie trotzdem verurteilt?

Nach dem 10. November 1989 hat die Presse eine Kampagne begonnen. Es wurde gesagt, daß damals alles verschwiegen wurde. Diese Kampagne wurde von sog. „Wissenschaftlern“ geführt, die vor der Wende nicht genug Anerkennung bekommen hatten. Sie haben Schlußfolgerungen gezogen, die unwissenschaftlich waren.

Wieso sagen Sie sogenannte „Wissenschaftler“? Wen meinen Sie?

Zum Beispiel Oberst Balkowski, vom Militärkrankenhaus in Sofia, oder Zwetan Botschew, Universitätsprofessor für Atomphysik. Er hat die Theorie aufgestellt, daß sogar geringe Mengen von Strahlung sehr gefährlich sind für die Bevölkerung. Das hat selbstverständlich das Gericht beeinflußt, und es hat gesagt, daß unsere Maßnahmen ungenügend waren. In Westeuropa gab es auch Verschmutzung, aber da wurde niemand angeklagt. Obwohl bei uns die Menge der Strahlung viel geringer war. Das Gericht mußte uns verurteilen, es mußte der vorgefertigten Meinung der Gesellschaft Rechnung tragen.

Und was halten Sie heute von der Atomenergie?

Die Atomkraft wird unweigerlich mehr und mehr zur Energiequelle in der Welt werden, da immer weniger Staaten über Ressourcen wie Erdöl und Kohle verfügen. Auch Bulgarien hat keine solche Ressourcen. Deshalb bleibt unser einziger Ausweg, die Atomkraft zu nutzen. Einen anderen Weg gibt es nicht.

Auch nicht, wenn ein Atomkraftwerk so gefährlich ist wie das einzige bulgarische in Kozloduj?

Ich bin kein Fachmann für Reaktorsicherheit. Aber ich kann Ihnen ein Beispiel geben. Der Unfall in Tschernobyl ist nicht passiert, weil der Reaktor nicht sicher war, sondern wegen fehlerhafter menschlicher Bedienung. Außerdem werden die Reaktoren ja immer moderner und sicherer.

Würden Sie alles, was Sie nach der Katastrophe von Tschernobyl unternommen haben, heute in einem ähnlichen Fall genauso tun?

Man gewinnt immer neue Erfahrungen. Heutzutage würden wir besser arbeiten, denn man hätte ja schon die Erfahrung von damals. Interview: Keno Verseck