: Die Deals mit dem Leiden anderer
■ Gesetze für Liquidatoren nützen zuerst der Verwaltung
Der Orden ist blanker Zynismus. Alpha-, Beta- und Gammastrahlen in einer Flamme, umrahmt von der Aufschrift „Teilnehmer an der Beseitigung der Folgen des Unfalls im Atomkraftwerk Tschernobyl“. Dieses Stück Blech, ein Schreiben mit den besten Wünschen für die berufliche Zukunft und eine einmalige Entschädigung von 12 Millionen Karbovanzy – das sind nicht einmal hundert Mark: Soviel war dem sowjetischen Staat die Gesundheit von Viktor Sodol wert.
Sechs Jahre hat der 44jährige nach der Reaktorkatastrophe als Liquidator im Kraftwerk gearbeitet. 1987 wurde ihm die Schilddrüse teilweise entfernt. Seit dieser Zeit leidet er an Herz- und Magenbeschwerden und kann sich an einen Tag ohne Kopfschmerzen und Schwindel kaum noch erinnern. Heute lebt Viktor Sodol von 13 Millionen Karbovanzy Invalidenrente im Monat und gehört damit in der Ukraine noch zu den priviligierten Ruheständlern. „Für Brot und Kartoffeln reicht es. Aber ich weiß nicht, wo ich das Geld für die Medikamente hernehmen soll.“
Die Stadt Wyschgorod, in die er und seine Frau nach dem Gau aus dem verstrahlten Pripjat zogen, hat 18.000 Einwohner. Davon sind 947 Tschernobyl-Invaliden. Im letzten Jahr stand der ukrainische Staat bei dem örtlichen Krankenhaus mit über 100 Milliarden Karbovanzy in der Kreide. „Woher sollen da noch die Medikamente kommen?“ sagt Viktor Sodol. Mit der Behandlung sieht es nicht besser aus. Chronisch Kranke wie er müssen bis zu zwei Jahre auf einen Platz in der Klinik warten.
Rechte und Ansprüche haben die Liquidatoren und Betroffenen der Reaktor-Katastrophe, die sogenannten Tschernobylzy viele, zumindest auf dem Papier. Das Gesetz über den Status und den sozialen Schutz der Tschernobyl-Opfer von 1992 listet die Maßnahmen auf, die den verstrahlten Menschen das Leben erleichtern sollen. Dazu gehören eine kostenlose medizinische Versorgung, Bevorzugung bei der Wohnungsvergabe oder öffentliche Verkehrsmittel und Aufenthalte in Sanatorien zum Nulltarif. Bezahlt werden sollen die Leistungen, wie überhaupt alle Maßnahmen in Zusammenhang mit dem Atommeiler, aus dem Tschernobyl-Fond. Er machte 1995 mit 118 Trillionen Karbovanzy fünf Prozent des ukrainischen Staatshaushaltes aus. Verantwortlich für die Verteilung ist in erster Linie das Tschernobyl-Ministerium.
Doch ein Großteil der Gelder kommt bei den Betroffenen nicht an, sondern landet nur allzuoft in den Taschen von Mitarbeitern der Verwaltung. Ende des vergangenen Jahres legte eine Kontrollkommission des ukrainischen Finanzministeriums einen 26seitigen Bericht über die Verwendung der Gelder von 1992 bis 1995 vor. In dem Papier finden sich an die hundert Verstöße gegen geltende Gesetze. Der Einfallsreichtum ist grenzenlos. Summen von mehreren Milliarden wurden zu hohen Zinssätzen bei Privatbanken angelegt. Nicht selten wurden Mittel für den Bau von Krankenhäusern, Schulen oder Kindergärten Firmen zugeschoben, die davon die Gehälter ihrer Mitarbeiter zahlten. Baumaterial wurde unter der Hand an Privatleute verhökert, der Staat zahlte für Projekte, die niemals zustande kamen.
Für ein geplantes dreistöckiges Krankenhaus wurden zwei teure Fahrstühle angeschafft. Nach Fertigstellung der ersten Etage ging das Geld aus. Die Fahrstühle warten immer noch auf ihren Einsatz.
Aber auch im kleinen Maßstab wissen findige Köpfe mit Tschernobyl Geschäfte zu machen. So kassierten Sanatorien für Aufenthalte von Tschernobylzy, die niemals dort gewesen waren. Auch mit den Tschernobyl-Bescheinigungen, die dem Inhaber zahlreiche Vergünstigungen bescheren, blühte in den Verwaltungen ein schwunghafter Handel. Den Chef der Kiewer Stadtverwaltung, Alexandr Moroko, brachten derartige Machenschaften vor zwei Wochen zu Fall. Unter anderem hatte er Bekannten 377 kostenlose Aufenthalte in Sanatorien zugeschanzt und mit Invaliden-Bescheinigungen gehandelt. Für Jurij Drjuschenko, den Vorsitzenden der Kontrollkommission des Kiewer Stadtparlaments, ist die Ablösung Morokos nach fast zweijährigem Kampf ein kleiner Sieg. Ob sich an dem Mißbrauch aber grundsätzlich etwas ändern wird, bezweifelt er.
Trickserei und Schacher sind auch im Ukrainischen Zentrum für Strahlenmedizin in Kiew an der Tagesordnung. Dessen Leiter möchte die dazugehörige Poliklinik loswerden, um weniger Patienten stationär aufnehmen zu müssen und damit Kosten zu sparen. So jedenfalls sieht es der Vorsitzende der Stiftung für die Invaliden von Tschernobyl, Valerij Kirkorow. „Von 50 Ärzten, die in der Poliklinik gearbeitet haben, sind noch 18 übriggeblieben. Unsere Mittel werden ständig gekürzt, wir rechnen im nächsten Monat mit der Schließung“, sagt Kirkorow.
Laut einer Statistik des Zentrums sind 1995 in Kiew 283 Tschernobylzy gestorben, 28 davon per Selbstmord. Diese Zahl liegt laut Kirkorow mindestens zwei bis dreimal höher. Wie viele Tschernobylzy tatsächlich im vergangenen Jahr gestorben seien, wisse ohnehin keiner. „Wenn jemand nachweislich an den Folgen von Tschernobyl stirbt, muß der Staat für die Beerdigung zahlen. Deshalb steht in den Totenscheinen häufig Herzversagen“, sagt er.
Vordringlichstes Problem für Kirkorow ist die Neufassung des Gesetzes über die Tschernobyl- Opfer, das derzeit im Parlament diskutiert wird. „Die vorgeschlagenen Änderungen verschlechtern die Situation für die Opfer. Außerdem haben wir bis jetzt kein Konzept, wie mit den verseuchten Gebieten verfahren werden soll. Auch die Zahl der Opfer ist nicht genau bekannt“, so Kirkorow.
In der ersten Lesung scheiterte der Gesetzentwurf im Parlament, was Kirkorow auch als persönlichen Erfolg wertet. Die zweite Lesung ist für den 26. April vorgesehen, den zehnten Jahrestag des Reaktorunfalls. Barbara Oertel
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