■ Es ist immer noch das Europa der Regierungen, das über die Zukunft der Europäischen Union entscheiden will
: Union der Völker – kein MaastrichtII

Eine Union der Völker soll die Europäische Union werden, legten die „hohen Vertragsparteien“ im Februar 1992 fest. Man hat alle Gründe zu bezweifeln, ob die Völker in den Mitgliedsländern der Maastrichter Union dieses Ziel bisher zur Kenntnis genommen haben, von ihm überhaupt Kenntnis erlangen konnten. Was sie im politischen Alltag Europas erleben, ist bestenfalls eine Union der Regierungen. Bestenfalls!

Der Widerspruch, der hier zwischen Rechtsgrundlage und politischer Wirklichkeit klafft, reicht um so tiefer, als „Union der Völker“ durchaus nicht nur ein lebensfernes Ideal, sondern in vieler Hinsicht bereits alltägliche Praxis ist. Es gibt eine Unionsbürgerschaft, und das mittlerweile bei allen Fußballfans bekannte Urteil im Falle Bosman hat gezeigt, welche überraschenden Rechtswirkungen diese Unionsbürgerschaft auch gegenüber bisher allmächtig scheinenden Verbänden zu entfalten vermag. Es gibt ein Kommunalwahlrecht der Unionsbürger, und die Winkelzüge der bayerischen und anderer Landesregierungen zeigen, wie weit die Furcht vor dem Wirksamwerden dieses neuen Wählerpotentials in gewissen parteipolitischen Erbhöfen um sich gegriffen hat. Es gibt ein Petitionsrecht der Unionsbürger beim Europäischen Parlament, das beispielsweise von sächsischen Unionsbürgern gegen die exorbitanten Abwassergebühren des sächsischen Kommunalabgabengesetzes in Anspruch genommen wird. Es gibt einen Bürgerbeauftragten beim Europäischen Palament. Und vor allem gibt es ein von Unionsbürgern und -bürgerinnen direkt gewähltes Parlament.

Aber man braucht das nur zu sagen, um sofort von allen Seiten Kopfschütteln zu ernten. Auf dieses Parlament, das nicht einmal die normalen Gesetzgebungs- und Budgetkompetenzen eines nationalen Parlaments hat, sollen sich Bürgerinnen und Bürger als Schutz und Sachverwalter ihrer Rechte verlassen können? Arme Unionsbürger, noch ärmere Unionsbürgerinnen! Dieses Parlament, das immer noch darum kämpfen muß, bei der Regierungskonferenz überhaupt Gehör zu finden, geschweige denn irgendeinen Einfluß zu nehmen, soll euch helfen?

Unter den jetzigen Umständen bekommen wir ein MaastrichtII zu MaastrichtI, eine Regierungskonferenz, die die Ergebnisse der vorangegangenen debattieren wird. Also ist es noch immer das Europa der Regierungen, das über die Zukunft der Union und damit Europas verhandeln und entscheiden will. So bürgernah wie möglich, sagt der Maastrichtvertrag, und mit dem Wort „Subsidiarität“ (Vorrang der jeweils niedrigeren Ebene) ist sogar ein regulatives Prinzip dieser Bürgernähe in seinen Text eingetragen worden.

Die Jahre seit 1992 aber haben mittlerweile gezeigt, daß das Europa der Regierungen unfähig ist, die von ihm selbst gesetzten Ziele zu verwirklichen, ja sogar die Richtung auf sie verfehlt. Hauptziel war es, die Europäische Gemeinschaft zur politischen Union weiterzuentwickeln. Die Gründung der Europäischen Union sollte eine Antwort auf die Herausforderung geben, mit der sich die europäischen Völker im Herbst 1989 konfrontiert sahen. Ist es ungerecht, das Europa der Regierungen an diesem Programm zu messen? Es wäre sogar unehrlich, die selbst aufgerichteten Maßstäbe im Interesse eines prinzipienlosen Pragmatismus fallen zu lassen. Aber legt man sie an das an, was mittlerweile geschehen oder nicht geschehen ist, so muß man das Ergebnis freilich niederschmetternd nennen.

Die Europäische Union hat bisher nicht im entferntesten eine Antwort gegeben auf die ungeheure Dimension des Zerfalls der Sowjetunion. Im Gegenteil, alle programmatischen Äußerungen von seiten europäischer Regierungen geben deutlich zu erkennen, daß sie entweder noch immer in den Koordinaten der Ost-West- Spaltung und des Kalten Krieges denken oder sich sogar nach ihnen zurücksehnen. Die Folgen brachte Bosnien an den Tag: die Wehrlosigkeit gegen die Brutalität der ethnischen Säuberungen bis hin zur öffentlichen Erniedrigung des EU- Administrators Koschnik. Was müssen die mittelosteuropäischen Länder von einer Union denken, für die die Überwindung der Spaltung Europas allein ein Haushalts- und Nato-Problem zu sein scheint?

Eine ebenso klare Zielangabe enthält der Maastrichtvertrag hinsichtlich der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Sie ist ausdrücklich auf die Menschenrechte von Flüchtlingen und politisch Verfolgten zugespitzt. Wie ist dieses Ziel durch die Abkommen über Immigrations-, Asylrechts- und Visafragen (Schengen, Dublin, Europol u. a.) verfolgt worden? Mit dem Ergebnis eines von allen Seiten beklagten Wirrwarrs und der Willkür in den Grenzregimen. Daß gerade durch das Fehlen eines anwendbaren Einwanderungsrechts immer neue rechtsfreie Räume und damit Nährböden für Kriminalität entstehen, weiß alle Welt. Sie kennt es genausogut wie das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen, die durch das von der Bundesrepublik eingeführte Abschieberecht geradezu alltäglich geworden sind.

Daß eine Regierungskonferenz diese Zustände durch eine Neuorientierung aller Politik auf die Durchsetzung einer Friedensordnung Europas beenden könnte, erscheint derzeit wenig wahrscheinlich. Um so deutlicher muß den Regierungen und der Öffentlichkeit bewußt gemacht werden, daß politische Entscheidungen, von denen Frieden und Überlebensfähigkeit ganzer Kontinente abhängt, möglichst bürgernah getroffen werden. Diese Entscheidungen müssen künftig unter Teilnahme der Bürger und Bürgerinnen durch ihre Mitentscheidung, und das heißt durch sie selbst, zustande kommen.

Insofern steht die Konferenz von Turin zweifellos an einem für die weitere Geschichte der Europäischen Union kritischen Wendepunkt. Die Möglichkeiten der Politik durch Regierungskonferenzen sind erschöpft. Die jetzt beginnende wird ihre Aufgabe nur dann erfüllen können, wenn sie sich als letzte versteht. Aber gerade dadurch könnte sie die erste einer ganz neuen Epoche werden, nämlich dadurch, daß sie Wege für eine Verfassungsinitiative eröffnet, an der die Bürgerinnen und Bürger aller Unionsländer gleichberechtigt teilzunehmen hätten.

Der Tagungsort Turin böte einen erfolgverheißenden Anknüpfungspunkt. Waren es doch gerade die italienischen Föderalisten, die in den achtziger Jahren schon einmal eine in ihrem Lande und auch im Europäischen Parlament wirkungsvolle Initiative für einen solchen Verfassungsprozeß ergriffen haben. Wolfgang Ullmann