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Berliner Sparschwein ist voll

Parlament beschließt unter massivem Polizeischutz drastisches Sparprogramm. Zehntausende protestieren. Eine Stadt macht mobil.  ■ Aus Berlin Dirk Wildt

Jetzt wird gespart: Nach einem zweieinhalb Wochen dauernden Verhandlungsmarathon hat gestern in den späten Abendstunden das Berliner Parlament Ausgabenkürzungen, Verkäufe und Gebührenerhöhungen in einem Umfang von 5,3 Milliarden Mark beschlossen. Insgesamt will Berlin innerhalb der kommenden vier Jahre 32 Milliarden Mark einsparen. Den gesamten Tag über schützte ein massives Aufgebot von Polizisten den Ort der Entscheidung: Der Preußische Landtag nahe dem Potsdamer Platz war umringt von einem massiven Polizeiaufgebot. Rund 40.000 BerlinerInnen marschierten vorgestern unter den Linden und an anderen zentralen Orten der Stadt auf, um ihren Unmut über Kürzungen und Streichungen kundzutun.

In den vergangenen beiden Wochen ist kaum ein Tag ohne Protestdemonstration vergangen. Brandenburger Bauern protestierten mit einem Traktorzug vor einer Woche. 3.000 Schüler waren Montag auf die Straße gegangen, 900 Bauunternehmer legten am Dienstag mit einer Demonstration von 450 Zugmaschinen, Betonmischern, Teerfahrzeugen, Baggern und Tiefladern den Berufsverkehr der 3,6-Millionen-Metropole lahm. Am Mittwoch gingen schließlich 10.000 Schüler auf die Straße und abends zogen 25.000 Menschen durch die Stadt, die dem Aufruf von 150 Gruppen aus dem kulturellen und sozialen Bereich gefolgt waren. Ihr Schlachtruf: „Kippen wir den Haushalt!“

Die tagelangen Proteste, in die sogar die Brandenburger Landesregierung und einzelne Minister in Bonn einstimmten, gingen nicht spurlos an der Großen Koalition vorbei. So haben CDU und SPD ihren Beschluß ausgesetzt, einen Agrarstudiengang an der Humboldt-Universität abzuschaffen oder das vom Bund mitfinanzierte Forschungsinstitut ACA zu schließen.

Mit geringen Änderungen stimmten gestern CDU und SPD den vom Senat vorgelegten beiden Gesetzentwürfen zu. Bis 1999 soll nun Landesvermögen für 10 Milliarden Mark verkauft werden. Die Zahl der finanzierten Studienplätze soll von 115.000 auf 85.000 fallen. Von den 173.000 Beschäftigten im öffentlichen Dienst soll bis zum Ende des Jahrzehnts jeder Fünfte gehen – allerdings soll niemand gegen sein Willen entlassen werden. Von den ursprünglich geplanten 60.000 Sozialwohnungen wird nur noch die Hälfte gebaut werden. Trotz der dramatischen Einschnitte wird die Große Koalition Kredite von rund 20 Milliarden Mark aufnehmen, der Schuldenberg von jetzt 50 Milliarden Mark auf 70 Milliarden Mark steigen.

Die Opposition kritisierte gestern in der Parlamentsdebatte erneut, daß sowohl die Einsparungen bis 1999 wie auch jene im laufenden Haushalt sozial unausgewogen seien. Sowohl PDS wie Bündnisgrüne rügten, daß die Gewerbesteuer erst 1997 auf das Niveau des Nachbarlandes von Brandenburg angehoben werden soll und trotz der Geldknappheit an Großprojekten wie dem Bau eines knapp eine Milliarde Mark teuren Autotunnels unter dem Tiergarten festgehalten wird.

„Der Nachtragshaushalt ist sozial völlig unausgewogen“, sagte der PDS-Abgeordnete Harald Wolf. Die Wirtschaft werde verschont, dagegen Kindergartenplätze und Schüleressen verteuert, Bibliotheksgebühren erhöht, eine Studiengebühr eingeführt und die Sozialkarten bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben abgeschafft. Die ehemalige grüne Senatorin Michaele Schreyer warf der Großen Koalition, die seit 1990 die Stadt regiert, vor, für die Haushaltsmisere verantwortlich zu sein, weil sie trotz deutlicher Warnsignale nicht rechtzeitig genug auf die Ausgabenbremse gedrückt habe. Sie kündigte an, daß ihre Fraktion gegen die vom Senat beschlossene Schließung bestimmter Studiengänge vor den Gerichten klagen werde.

Die CDU konterte auf die Vorwürfe der PDS, daß sie sich von den „Pleitiers von gestern“ heute nicht in Haushaltsfragen beraten lassen wolle. Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing (SPD) verteidigte das Sparpaket als sozial ausgewogen, „soweit dies in dieser schwierigen Lage möglich war“. Für das kommende Jahr kündigte die Senatorin Kürzungen von 10,7 Milliarden Mark an: „Die Probleme, die wir vor uns haben, sind deutlich größer als die aktuellen.“ Der CDU warf sie vor, nach den erfolgreichen Sparverhandlungen der Großen Koalition mehrmals nachträglich eingeknickt zu sein.

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