: „Niemand muß auf Dauer in eine Anstalt“
■ Doch die psychisch Kranken brauchen Hilfe auf dem schwierigen Weg nach draußen
Ein Gespräch mit Manfred Zaumseil, Professor am Institut für Klinische Psychologie und Gemeindepsychologie der Freien Universität Berlin, über Enthospitalisierung in der Psychiatrie
taz: Was versteht man unter dem Begriff Enthospitalisierung?
Manfred Zaumseil: Damit wird ein Prozeß beschrieben, der Patienten, die über einen langen Zeitraum in einer psychiatrischen Klinik betreut wurden, wieder zu einem möglichst selbständigen Leben befähigen soll. Wie weit diese Selbständigkeit geht, hängt von den einzelnen Personen und ihrer Vorgeschichte ab.
Welche Zeiträume werden bei einem Klinikaufenthalt als langfristig definiert?
Das ist ganz unterschiedlich. Es können fünf Jahre sein, aber auch dreißig oder vierzig. Entscheidend ist bei allen Fällen, daß der Bezug zum alltäglichen Leben, wie wir es kennen, nicht mehr oder kaum noch vorhanden ist. Häufig haben die Patienten ihre Autobiographie verloren. Ihr Leben sieht dann rückblickend so aus: Vor sechs Jahren war ich auf Station 19, vor dreizehn Jahren auf Station 5 und so weiter. Die psychiatrischen Diagnosen, die einmal gestellt wurden, sind dabei kaum von Bedeutung. Die Patienten werden in der Regel ambulant weiterbehandelt. Aber zusätzlich muß erst mal etwas aufgebaut werden, was durch den langfristigen Aufenthalt in der Klinik verlorengegangen ist, nämlich eine Wieder- oder sogar Neubeheimatung außerhalb der Anstalt in einer neuen Lebenswelt. An die Idee, daß es ein draußen gibt, müssen die Patienten erst herangeführt werden.
Gibt es bestimmte Patienten, die für diesen Prozeß der Wieder- oder Neubeheimatung prädestiniert sind, oder kommt für die Enthospitalisierung grundsätzlich jeder in Frage?
Langfristig hospitalisierte Menschen erhielten häufig die Diagnose Schizophrenie, die insofern auch häufig in Enthospitalisierungsprogrammen vertreten ist. Grundsätzlich gilt jedoch: Es gibt niemanden, der dauernd in einer Anstalt untergebracht werden muß. Pauschale Kriterien nach Krankheitsbildern und ein Raster nach dem Prinzip „geeignet/ungeeignet“ machen keinen Sinn. Aber bei einer neuen Verpflanzung ist vor allem der Wille der betroffenen Personen wichtig, aus der gewohnten Lebenswelt wieder herauszutreten. Es ist ja nicht so, daß die Patienten alle darauf brennen. Es sind oft Ängste vorhanden, ob sie sich draußen wieder zurechtfinden können. Darüber hinaus ist das Personal in den psychiatrischen Kliniken der Enthospitalisierung gegenüber oft sehr skeptisch eingestellt. Die Langzeitbetreuer haben Angst um ihren Arbeitsplatz und empfinden das auch als Affront gegen die von ihnen erbrachte Betreuungsleistung. Im Prinzip müßte dort schon der Anfang gemacht werden und nicht erst bei den Patienten. Zum Beispiel könnten auch die Arbeitsplätze in den ambulanten Bereich transferiert werden. Dem stehen allerdings einige rechtliche Probleme im Weg.
Wie funktioniert Enthospitalisierung?
Das ist ein langwieriger Prozeß, der schon in der Klinik beginnt. Der erste Schritt ist die Vorbereitung auf draußen. Die ambulante Betreuung umfaßt dann Wohnen, Freizeit und Arbeit. Eine Möglichkeit ist das Leben in einer therapeutischen Wohngemeinschaft. Diese Wohngemeinschaften sind aber gar nicht so beliebt bei allen Patienten. Sie leben auch lieber allein oder als Paar, wie die meisten anderen Menschen. Viele Patienten werden feste Besucher von Tagesstätten, in denen die Bewältigung des Alltags und dessen Strukturierung geübt werden. Kontakt- und Begegnungsstätten hingegen offerieren Angebote, die von den Betroffenen freiwillig genutzt werden können.
Die meisten haben schon in der Klinik gearbeitet. Diese Tätigkeiten werden draußen in Zuverdienstfirmen und Behindertenwerkstätten fortgesetzt. Leider gibt es nur dürftige Verdienstmöglichkeiten, die zur knappen Sozialhilfe hinzukommen. Der normale Arbeitsmarkt ist zur Zeit mehr denn je unerreichbar. Fortschritte stellen sich nicht von heute auf morgen ein, aber bei einer guten Betreuung sind die Ergebnisse oft überraschend. Die Leute entwickeln Fähigkeiten, die man ihnen in der Klinik nie und nimmer zugetraut hätte. Ich denke, es gibt niemanden, der sein Leben in einer psychiatrischen Klinik verbringen muß.
Ist denn eine intensive langfristige Betreuung gewährleistet?
Genau da liegt der Haken. In Berlin werden zwar Betten in den psychiatrischen Kliniken abgebaut, aber nicht um das eingesparte Geld in die Enthospitalisierung zu stecken. Ohne einen solchen Transfer ist Enthospitalisierung reiner Zynismus. So reformerisch, wie sich das erst einmal anhört – Enthospitalisierung kann hart sein. Die Gefahr besteht, daß die Patienten völlig allein gelassen auf der Straße stehen. Obdachlosigkeit und der Sturz ins soziale Nichts sind ja wohl keine Alternativen zum Klinikaufenthalt. Die Entwicklung darf auch nicht dahin gehen, daß Kliniken in „Heime“ umgetauft werden, bloß um medizinisches Personal einzusparen. Das wäre Augenwischerei. Interview: Lars Klaaßen
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