: Francisco de Goya hat Geburtstag
Und der Spanische Bürgerkrieg auch. Beobachtungen in den aragonischen Dörfern Fuendetodos und Belchite im Erinnerungsjahr ■ Von Johannes Winter
Mitten im welligen Ackerland des mittleren Aragón schmiegt sich ein winziges Dorf in eine Nische zwischen graubraunen Hügeln. Das Mosaik der Ziegeldächer liegt schattenlos in der Mittagssonne, nur der Kirchturm und ein türkisfarbenes Becken stechen hervor.
Eine Ziegenherde, behütet von Hirt, Hund und Esel, zupft sich durchs Gesträuch. Am Brunnen döst zuckend ein Köter. Hier wurde vor 250 Jahren – am 30. März 1746 – der Maler Francisco de Goya y Lucientes, genannt Goya, geboren. Der Ort heißt Fuendetodos und hat 150 Einwohner.
Einige Kilometer entfernt liegt das Nachbardorf Belchite. Ein merkwürdig moderner Ort mit weißen Häusern entlang wohlgeordneter Straßen; im Zentrum ein mächtiger Kirchbau nebst Turm. Kaum, daß wir den Ortskern verlassen wollen, ragen Ruinen in den Sommerhimmel. Neben einem Torbogen, ziegelgemauert und vom Stumpf eines geborstenen Turmes gekrönt, steht das Schild: „Belchite – ehemaliges Dorf“, und darunter in Klammern: „Historische Ruinen“.
Wir haben den einzigen Ort Spaniens (und vielleicht Europas) vor uns, der unversehrt als Trümmerwüste erhalten ist. Keine klassische Sehenswürdigkeit – hier lebt Belchite weiter als Topographie des Terrors, der vor sechzig Jahren, im Sommer 1936, mit dem Spanischen Bürgerkieg über das Land hereinbrach.
Was verbindet die beiden Dörfer, was die beiden Daten?
Im spanischen Erinnerungsjahr 1996 pendeln wir zwischen Goya- Jubel und Kriegsgedenken, wandern von der Realität der Kunst zur Symbolik der Zerstörung. Es ist Goyas Bilderzyklus „Die Schrecken des Krieges“, der die Orte und Daten einander annähern kann.
Zu Lebzeiten des Malers Goya, Anfang des 19. Jahrhunderts, hatten französische Besatzungstruppen des Kaisers Napoleon Bonaparte die Dörfer im Umland von Saragossa heimgesucht. Mit seinem Bilderzyklus hatte der Künstler auf das Morden und Totschlagen, das Vergewaltigen und Vernichten reagiert.
Der Maler Goya ist wohl nur zufällig in Fuendetodos im Haus seiner Mutter, der Lucientes, verarmtem Landadel, zur Welt gekommen; Hauptwohnsitz der Familie war Saragossa, 30 Kilometer nördlich am Ebro gelegen, wo der Vater als Vergolder sein Handwerk zum Nutzen der Kunst ausübte. Francisco war das vierte von sechs Kindern.
Das Geburtshaus wird jedoch als erste Adresse angepriesen, ein bescheidenes Bruchsteingebäude, das vor einigen Jahren vor dem Verfall bewahrt wurde. Die Votivtafel neben dem Eingang mit ihren Verweisen auf „Ehre des Vaterlandes und Genius der Kunst“ sowie auf „unvergängliche Erinnerung“ stammt aus längst vergangenen Zeiten und kann ihrerseits schon dokumentarische Qualität beanspruchen. Bei einem Rundgang sind etliche ehrwürdige Möbelstücke zu betrachten, verstreut in der Beengtheit des Wohnens von einst. Eine Stiege hoch ist das Haus und zwei Stuben weit, unterm Dach die Kornkammer.
Daß aus dem ×uvre des Malers ausgerechnet eine Kopie der „nackten Maja“ den kahlen Hauptraum unter weißgetünchten Balken schmückt, verletzt die Sinne, denn es erniedrigt das Bild auf den Wohnzimmerkitsch heutiger „Zigeunerinnen in roter Bluse“.
Es braucht nur wenige Schritte, um derlei schlüpfriger Ehrfurcht erneut zu begegnen. Die Dorfkneipe im Nachbarhaus heißt „Mesón de la Maja“, Gasthaus zur Schönen.
Auch der (Park-)Platz davor trägt den Namen Goyas, die Mauer eine Metallbüste in düsterem Schwarz, der Souvenirladen bietet ihn feil in Bild und Ton, Geschnitztem und Wachs. Goya blickt außerdem von einem Sockel im Kirchhof im Oberdorf, mit Patina im Gesicht und günstig für Gruppenfotos. Die Pension im Schatten der Kirche gab sich den Namen „El Capricho de Goya“, werkgetreu und wohlwissend, daß sich auch mit Zitaten (von Goyas Zyklus „Los Caprichos“ – Einfälle) etwas hermachen läßt. Sieben Zimmer hat zum Übernachten zur Auswahl, wer des Sehens, Schauens, Betrachtens müde ist.
Nur eine Gasse weiter findet sich Goya-Haus Nr. 2 mit einer Ausstellung, die die drei Grafikserien des Meisters darbietet: „Caprichos“, „Tauromaquia“ (Stierkampf) und – „Los Desastres de la Guerra“ (Die Schrecken des Krieges).
Der Kunstgeschichte gelten die Radierungen als Gelegenheitswerke, weil ohne Auftrag entstanden. Hatten seine großen Gemälde den Spielregeln des Zeitgeistes und den Erwartungen der königlichen Auftraggeber zu entsprechen, so nahm sich Goya bei den Kleinformaten alle Freiheit.
Just 1789, beim Ausbruch der Großen Revolution im Nachbarland Frankreich, war er zum Hofmaler ernannt worden, in Madrid, einem der rückständigsten Köngishäuser Europas. Während der Ruf nach Liberté, Égalité und Fraternité von Paris über die Pyrenäen drang, lag Spanien noch im tiefen Schlaf des Mittelalters.
Aus dem rissen rund zwanzig Jahre später die Invasionstruppen des Franzosenkaisers Napoleon das Land mit brutaler Gewalt. Ein Guerrillakrieg brach aus. Die fremden Eindringlinge wurden vertrieben. Goya, der Hofmaler, wurde zum Kriegsmaler.
Zutiefst gespalten zwischen Patriotismus, Faszination für die französischen Ideale und Erschrecken vor der französischen Realität, machte er sich auf, seine Heimat, das mittlere Aragonien um Saragossa, wiederzusehen.
Er war sechzig Jahre alt, als er zerstörte Dörfer sah und verstörte Menschen. Seine Heimatstadt Saragossa lag wie ein Haufen von Leichen und Trümmern vor ihm.
Die „Schreckensbilder“ – 46 Radierungen mit dem ursprünglichen Titel „Verhängnisvolle Folgen des blutigen Krieges in Spanien gegen Bonaparte“ – gelten bis heute als eindringlichste Darstellung des Krieges, die in der bildenden Kunst hervorgebracht worden ist. Dies sind keine Schlachtengemälde, strotzend von Pracht, Heldenmut und Lüge, von martialischen Männern.
In den „Desastres“-Miniaturen im ersten Stock des kleinen Ausstellungsgebäudes zu Fuendetodos stehen wir vor reportagehaften Inszenierungen voll abgründiger Brutalität und grellem Entsetzen. Es sind Porträts von Gewalt und Sadismus, deren Wirkung Goya noch erhöht mit seinen lakonischen Untertiteln – „Es gibt keine Hilfe“, „Das passiert dauernd“.
Das Moderne und zugleich Aktuelle der Horrorstudien schlägt uns gerade im friedlichen Ambiente von Fuendetodos in seinen Bann.
„Die Frauen flößen Mut ein“ ... „Und sind wie wilde Tiere“ steht unter zwei anderen Bildern, auf denen Frauen im Nahkampf an die Stelle von Männern getreten sind. Auf mehr als einem Viertel der Blätter erscheinen Frauen: sie kämpfen, feuern eine Kanone ab, werden vor den Augen ihrer Kinder oder Männer vergewaltigt oder betrauern ihre Toten. Krieg, so die Botschaft, ist Krepieren. Ob in Aragonien, Ruanda oder Bosnien.
Oder in Belchite, das bis in die dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts ein wohlhabendes Handelsstädtchen mit viertausend Einwohnern war, an einer wichtigen Verkehrskreuzung gelegen.
Wir betreten das „ehemalige Dorf“ durch das Stadttor. Linker Hand ragt der Torso eines Kirchturms ins Blaue. Der Eindruck des Gespenstischen will sich nur schwer einstellen. Zu grotesk klingt die grölende Begleitmusik aus dem Schafstall jenseits der Stadtmauer. Zu absurd liest sich die verwitterte Aufschrift an der Fassade des dritten Hauses rechts: „Gasthaus zum Abstinenzler“.
Wir befinden uns auf der Hauptstraße, die, von zweistöckigen Bürgerhausruinen gesäumt, das Stadttor mit der Kathedrale San Martin verbindet. Bröckelndes Gestein unter den Füßen, wandern wir zwischen geborstenen Häuserwänden, die den Blick freigeben ins Innere: die Farbe Blau an den Zimmerwänden – der zerbröselnde Rest von Wohnkultur läßt das Trümmerchaos noch obszöner wirken.
Dies hier ist Nachkrieg, der seit sechzig Jahren nicht vergeht. Der Ruinenort verrottet unter Sonne und Wind, im Frieden des Verfalls ein Denkmal, das zum Himmel schreit.
Der Blick fällt auf Rundbögen, Kapitelle und Putten, auf kleine Altane im aragonesischen Stil mit schmiedeeisernen Gittern an Häuserfassaden voller Schußspuren. Noch trotzen hervorragende Dachtraufen dem Verfall. Doch halt, schon ein wippender Spatz schürt die Befürchtung, daß Latten oder Ziegel abstürzen könnten. Wir ziehen es vor, auf Zehenspitzen in der Mitte der Straße zu gehen, die Häuserreihe zu beiden Seiten argwöhnisch-bedrückt musternd. Solche Leisetreterei endet auf dem Hauptplatz vor der Kathedrale, von dem die Straßen und Gassen einst wie Speichen eines Wagenrades auseinanderliefen.
Jetzt schlängelt sich ein tropfender Wasserschlauch herüber, und ein Jugendlicher rast mit seinem geländegängigen Zweirad vorbei.
Das Gerippe des Gotteshauses scheint unverrückbar. Der Campanile aber beweist: Hier war Krieg, hier wurde geschossen. Daß hier krepiert wurde, ist verschüttete Vergangenheit. Durchlöchert hält sich der Kirchturm seitdem gerade, seine gähnenden Fensterhöhlen geben ihm das Aussehen einer Riesennadel mit Öhren, rundum.
Um dieses Belchite tobten im Bürgerkrieg vor sechzig Jahren erbitterte Kämpfe zwischen den Einheiten des Putschistengenerals Franco und den Regierungstruppen der Spanischen Republik. Um diesen Kirchturm, um den von San Agustin und um den Uhrenturm zwei Gassen weiter – er erinnert an die berühmte Kirchenruine im Zentrum Berlins –, um diese drei Türme wurde mit einer derart todesverachtenden Gnadenlosigkeit gerungen, daß auch der Kriegsreporter Ernest Hemingway darüber berichtete.
Denn an der Schlacht um Belchite waren auch fünfhundert seiner Landsleute beteiligt, Freiwillige des US-amerikanischen Lincoln-Washington-Bataillons, das ein Teil der sagenumwobenen Internationalen Brigaden war. Sie alle, darunter ungewöhnlich viele Schriftsteller, die die Schreibmaschine mit dem Maschinengewehr vertauscht hatten, waren der bedrängten Republik, aber auch der sozialen Revolution zu Hilfe geeilt – internationale Solidarität in einem Europa, das in jenen dreißiger Jahren schon zur Hälfte diktatorisch regiert wurde.
23 Tote und 60 Verletzte zählte Hemingway im amerikanischen Bataillon, das um Belchite kämpfte. Insgesamt kostete diese Schlacht nach seinen Schätzungen rund 5.000 Menschen das Leben – Haus für Haus, Mann gegen Mann.
Ein einziges Schild warnt vor „Einsturzgefahr“, kein einziges mit „Betreten verboten“. Die Trümmerwüste ist eine offene Stadt ohne Leichen, hinter der Kathedrale erstreckt sie sich bis zum anderen Stadttor, Schuttberge erodieren vor sich hin, verweigern sich jeder Blume. Gras ist über Belchite nicht gewachsen.
Ein alter Mann im „neuen“ Belchite nebenan, befragt nach der traumatischen Historie, gibt sich schwerhörig. Mag sein, daß er taub ist – wie der Maler Goya die letzen 35 Jahre seines Lebens.
Es war der Spanische Bürgerkrieg, der Anlaß bot, die (Anti-)Kriegsbilder des Malers aus Fuendetodos in die politische Aktualität einzupassen. Nach der Schlacht um den Nachbarort Belchite wurden sie von antifaschistischen Demonstranten, auf Transparente kopiert, in Paris durch die Straßen getragen.
Tips fürs Reisegepäck: Feuchtwangers Goya-Roman und Goyas „Desastres“ (Diogenes-TaBu)
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