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Lech Walesa, der Retter in der Not

Die Danziger Lenin-Werft, einst das Bollwerk der Solidarność, steht vor dem Aus. Polens Ex-Präsident und Ex-Arbeiterführer tritt am 2. April als Elektriker im blauen Drillich an  ■ Aus Danzig Gabriele Lesser

„Natürlich ist dem Westen ein Herr Kwaśniewski auf dem Präsidentenstuhl hundertmal lieber als ein Walesa. Dem müssen sie ja dankbar sein. Der hat ja den Kommunismus zu Fall gebracht. Durch ihn wurde die Wiedervereinigung Deutschlands möglich.“

Lech Walesa malt kleine Kreise auf das vor ihm liegende Manuskript. Seit Januar empfängt Polens Expräsident seine Gäste nicht mehr im Warschauer Präsidentenpalais, dem Belvedere, sondern im zweiten Stock des Danziger Gewerkschaftshauses der Solidarität. Das Zimmer ist klein und spartanisch eingerichtet: ein Schreibtisch, drei Stühle, ein Sofa, ein Schrank; die Wände bis auf ein schlichtes Holzkreuz schmucklos.

Die Danziger Werft steht kurz vor der Pleite, und Walesa soll noch einmal helfen. In seinem Vorzimmer geben sich Politiker, Arbeiter und Journalisten die Klinke in die Hand. Die bisherigen Krisengespräche der Werftleitung mit der Regierung haben nichts gebracht. „Der Markt soll entscheiden“, fordert Finanzminister Grzegorz Kolodko. Sein ehemaliger Parteigenosse, der heutige Premierminister Wlodzimierz Cimoszewicz, setzt noch eins drauf: „Auf der Werft wurde nicht gearbeitet, sondern politisiert.“ Das heutige Finanzdesaster sei die Quittung dafür. Marian Krzaklewski, der Nachfolger Walesas auf dem Chefsessel der Gewerkschaft Solidarność, sieht das ein bißchen anders: „Sicher war die Werft politisiert. Die Folge ist aber, daß heute ein Herr Cimoszewicz in demokratischen Wahlen zum Premierminister gewählt werden kann.“

Auf dem Werftgelände ist es erstaunlich ruhig. Von fern ist ein dumpfes Dröhnen zu hören, ein altmodisches Bimmeln wie aus einem anderen Jahrhundert, vereinzeltes gedämpftes Hämmern. Es ist vier Uhr nachmittags. Die meisten Arbeiter sind schon zu Hause. Seit Monaten ist die Werft nicht mehr ausgelastet, es fehlt an Rohstoffen und Zubehör. Das Solidarność- Museum rechts vom Eingang ist geschlossen. Direkt gegenüber dem Museum ragen Eisenstreben wie riesige Kreuze in den Himmel. „Unser Friedhof“, meint ein Schweißer sarkastisch und schiebt sein Fahrrad an der Investitionsruine für eine Fernsehfabrik vorbei. „Streik? Nur wenn sie wirklich zumachen. Aber das können sie nicht. Wir sind über 7.000 Arbeiter.“

Die verlassene Werft wirkt wie ein Industriemuseum aus dem 19. Jahrhundert. Selbst die vereinzelten Arbeiter in ihren vor Ruß und Schmiere starrenden Drillichanzügen scheinen aus einer anderen Welt zu stammen. In einer Montagehalle, in der die Staubkörner durch ein milchig-warmes Licht schweben, tätschelt ein gut 50jähriger Mechaniker eine vier Meter hohe Stahlstanze: „Das ist mein Maschinchen. An dem kenne ich jede Schraube.“ Er lacht und entblößt stolz zwei Zahnlücken: „Über zweihundert Jahre hat sie schon auf dem Buckel. Die ist noch von den Deutschen. Das hält ewig!“ Insgesamt könnten auf der größten Werft Polens sechs Schiffe gleichzeitig gebaut werden. Tatsächlich liegen aber nur ein Containerschiff und ein Massenstückgutfrachter auf der Helling.

Die Werft, die noch 1991 auf Erfolgskurs segelte, schippert heute schwer angeschlagen durch ein Schuldenmeer von 350 Millionen Zloty (rund 207 Millionen Mark). Die Banken wollen ohne staatliche Garantien keine weiteren Kredite einräumen. Die Zulieferer fürchten, daß ihre Waren auf Nimmerwiedersehen davonschwimmen, und fordern Vorkasse. Auf den Konten der Werft aber liegt kein einziger Zloty. Wie sie die Löhne für den nächsten Monat bezahlen soll, weiß die Werftleitung nicht. Sie hofft auf ein Wunder – und auf Walesa.

Schon einmal stand die Werft kurz vor dem Aus. Als die Belegschaft im Herbst 1988 für die erneute Zulassung der Gewerkschaft Solidarität streikte, machte Mieczylaw Rakowski, der letzte kommunistische Ministerpräsident Polens, die Werft einfach dicht. „Likwidacja“ stand auf dem gräulich- schmutzigen Briefbogen aus Warschau. Zwar bahnte sich gerade eine neue Konjunktur im Schiffsbau an, aber das interessierte Rakowski nicht. In der zweijährigen Liquidierungsphase sollte die Werft noch die von der Sowjetunion bestellten Schiffe abliefern und sich dann in viele kleine Betriebe auflösen. Zwei Jahre später stand Rakowski auf dem politischen Abstellgleis. Die Direktion der Werft übernahm ein Solidarność-Mann. Um die Arbeiter zurückzuholen, die inzwischen in anderen Unternehmen arbeiteten, wurden die Löhne angehoben. Die Schuldenschraube begann sich zu drehen, denn für jeden Zloty, den der Direktor über die Inflationsanpassung hinaus zahlte, mußte die Werft ein Strafgeld an den Staat abführen. Da die Werft die bestehenden Verträge nicht neu verhandelte, die bestellten Schiffe aber erst Monate nach dem geplanten Stapellauf an die Reeder übergeben konnte, flatterten der Werftleitung Konventionalstrafen in Millionenhöhe auf den Schreibtisch. Dennoch gelang es 1991 zum ersten und einzigen Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs, einen kleinen Gewinn auszuweisen. Im Mai 1994 aber warnte die Bank Handlowy, der Hauptgläubiger, sie werde keine weiteren Kredite ohne staatliche Garantien auszahlen. Die Regierung gab dann zwar die Garantien, aber erst im Oktober. Erneut mußte die Werft zudem Koventionalstrafen bezahlen. Als dann auch noch der Dollar zu fallen begann, der Zloty sich aber stabilisierte, geriet die exportabhängige Werft ins Trudeln. Die Kosten für die Produktion übersprangen den Monate zuvor ausgehandelten Preis für das fertige Schiff. Die Werft schloß ihre Bilanz 1995 nicht, wie geplant, mit einem Plus von 7, sondern mit einem Minus von 52 Millionen Mark ab.

„Natürlich kehre ich auf die Werft zurück“, sagt Walesa. „Ich habe gar keine andere Wahl. Da die Regierung sich keine Altersregelung für die Präsidenten Polens ausgedacht hat, werde ich am 2. April auf meinen alten Arbeitsplatz zurückkehren. Von irgend etwas muß ich schließlich leben.“ Walesa zuckt mit den Schultern. Der Lohn eines Elektrikers auf der Danziger Werft beträgt zur Zeit rund 300 Mark. Davon wird Walesa nicht leben können. „Nach der Schicht komme ich hierher ins Gewerkschaftshaus und berate die Solidarität. Außerdem reise ich ins Ausland und suche Investoren für die Werft.“

In Warschauer Regierungskreisen kursiert ein Horrorszenario: Streik auf der Danziger Werft, Transparente und Aufmärsche der Arbeiter wie 1980 und 1981. Mittendrin der alte Arbeiterführer Lech Walesa, Nobelpreisträger und Ex-Präsident, im blauen Elektrikerdrillich. Ein solcher Streik würde die postkommunistische Regierung in einem äußerst fatalen Licht erscheinen lassen. Inzwischen verhandelt sie über die Rettung der Lenin-Werft, eine Umstrukturierung, einen staatlichen Zuschuß – und ein Stillhalteabkommen mit der Gewerkschaft: „Keine Streiks in den nächsten zwei Jahren.“

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