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■ QuerspalteEndlich wird es Nacht

Es ist fünf nach zwölf, aber wir leben ohnehin 60 Minuten zu spät, und zwar von Rechts wegen. Von links gesehen leben wir zu kurz, etwa zweihundertdreizehn Jahre. Zu spät und zu kurz ist unser beidhändiges, resp. freiwilliges Schicksal. Sieht man uns aber von oben, so sind wir platt wie eine Swatch, sieht man uns von unten, so sind wir hoch oder rund wie die Weltuhr auf dem Berliner Alex. Von vorn betrachtet man unsere Rücksicht und von hinten unsere Vorsicht auf dem Bauch, denn den haben wir auch. Schmilzt nun der Frühlingsschnee zwischen unseren Zehen, so tun die Zähne weh – Schmerzen, die erst aufhören, wenn uns die Sonne direkt ins Gehirn scheint.

Was sich liest wie eine Paraphrase auf einen Prosatext des großen Schwitters, ist seit gestern Wirklichkeit, digital und Anna log. Aber wer sagt die Wahrheit? Die Wahrheit ist: Sommerzeit und drei Grad unter null, Bodenfrost.

Erinnern wir uns: Das Argument, um in der Bundesrepublik die Sommerzeit zu installieren, lautete, man müsse, wolle und könne Energie sparen. Weil noch niemand den Biorhythmus erfunden hatte, rührte sich kaum Widerstand, andererseits hatten die Deutschen während der ersten zwei Weltkriege durchaus gute Erfahrungen mit der Sommerzeit gemacht. Immerhin lag es nicht daran, daß wir beide verloren haben. Aber weder Wissenschaftler noch Wissenschaftlerinnen müßten uns heute beweisen, daß selbstverständlich nichts gespart wird, am wenigsten Energie und Rohstoffe.

Unzuverlässige Quellen behaupten ohnehin, die Wiedereinführung von einer Stunde mehr Helligkeit gehe auf eine Kartellabsprache der Weizenbierindustrie zurück, die nach Märkten jenseits des Weißnix-Äquators suchte. Oder doch nicht? Ist es vielmehr unsere autozentrierte Gesellschaft, die nicht genug Gas geben kann? Abend für Abend cruisen Cabrios durch die Straßen, vorbei an Außencafés, wo unsittlich gekleidetes Volk lärmt und der Cappuccino nur in Kännchen serviert wird. Endlich wird es Nacht. Guten Morgen. Dietrich zur Nedden

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