piwik no script img

"Kein festes Geschlecht"

■ Die Journalistin J. C. Herz geriet aus Langeweile ins Internet - und landete dann in einer Selbsthilfegruppe. Ihr Erfahrungsbericht wurde in Amerika ein Bestseller

taz: Wie bist du ins Internet geraten?

J. C. Herz: Als Student erhält man in Amerika automatisch Zugang zum Rechenzentrum der Uni. Eines Tages, als ich am Computer saß, hatte ich keine Lust mehr zu arbeiten und spielte so rum. Dabei geriet ich dann zufällig ins Internet.

Stell dir vor, du sitzt am Computer, und plötzlich sind überall Dialoge, und du weißt nicht, was das ist. Das ist wie ein Schock, ein Erstaunen darüber, daß es das gibt. Ich schrieb bereits über Musik für eine Zeitung und dachte: „Wahnsinn, das ist mindestens genauso verrückt wie Rock'n'Roll, also warum nicht darüber schreiben?“ Ich war keine Computerexpertin und konnte das Ganze mit Humor betrachten.

Gibt es besondere Verhaltensregeln im Internet?

Natürlich, sonst würde das System nicht lange funktionieren. Es gibt eine Netikette, die Benimmregeln des Internet. Wenn man zum Beispiel eine Newsgroup betritt, das sind Diskussionsforen über bestimmte Themen, dann gibt es naheliegende Fragen, die niemand zum tausendsten Mal beantworten will. Deshalb sollte man zuerst die Liste der häufig gestellten Fragen lesen, bevor man die anderen nervt.

Eine andere Regel ist etwa: „Sende keine E-Mail an ein öffentliches Forum.“ Wenn man diese Regeln bricht, halten einen die Leute zwar nicht für kriminell, aber sie wissen sofort, da ist schon wieder so ein Greenhorn.

Ist das Internet nicht ein ziemlich exklusiver Männerklub?

Um im Wilden Westen zu überleben, mußt du zwangsläufig eine Annie Oakley sein, wie diese Scharfschützin in Buffalo Bills Zirkus. Aber es ist toll, eine der wenigen Frauen zu sein, die in so einer Umgebung existieren können. Man wird respektiert, wenn man es schafft. Eigentlich hat man ja überhaupt kein Geschlecht im Internet. Bis du den Leuten sagst, daß du eine Frau bist, wissen sie es nicht, denn kein Mensch kann dich sehen. Ich habe mit Frauen gesprochen, die manchmal Männernamen benutzen, um anonym zu bleiben. Und ich habe mit Männern gesprochen, die wegen ihres Namens für Frauen gehalten und in den Chatrooms des Internet permanent angemacht wurden. Sie sagten: „Das war eine der härtesten Erfahrungen meines Lebens. Man glaubt gar nicht, was Frauen durchmachen müssen.“ Dann sind da aber auch Männer, die sich als Lesbe ausgeben und hoffen, von einer anderen angebaggert zu werden. Aber ich glaube, das hat nichts mit Sexualität zu tun, die Leute sind einfach neugierig.

Wie hat sich das Internet auf deinen Alltag ausgewirkt?

Es gab da bald diesen Dauerwitz über mich als Computersüchtige. Ich endete schließlich in einer Internet-Selbsthilfegruppe. Ich habe zuviel Zeit damit verbracht. Es war eine Mischung von zu wenig Schlaf, zuviel Kaffee und Fast food. In den drei Monaten, in denen ich mein Buch schrieb, habe ich kaum geschlafen. Deswegen ist seine Sprache auch so daneben und halluzinogen.

Das Internet zieht heute die Pioniermythen an. Im Wilden Westen gab es Siedler. Was wird im Internet gebaut?

Im Moment vor allem virtuelle Städte, die „multi-user-dimensions“, genannt MUDs. Angefangen hat es als Spielwiese für große Jungen, die immer noch Drachen töten wollen. Aber es gibt auch Plätze, an denen Wälder, Gärten und Felder gebaut werden. Je mehr wir alles zubetonieren, um so mehr fangen Leute an, mit ihren Computern solche natürlichen Umgebungen zu entwerfen.

Was hältst du vom World Wide Web, das ja eine Art grafischer Benutzeroberfläche für das Internet ist?

Wir sind eine visuelle Kultur. Wir erfahren die Dinge zuerst mit unseren Augen. Wir wollen Bilder. Deswegen ist das WWW so populär geworden, einfach weil es bunte Seiten, Grafiken und Sounds hat. Und man braucht nur kleine Knöpfe anzuklicken, um von Seite zu Seite zu gelangen oder Verbindungen zu eigenen Seiten herzustellen. Wie schon bei den ersten virtuellen Städten, die nur aus Text bestanden, ist das wie ein gigantischer Hypertext, ein kollektiver Roman.

Jetzt gibt es diese Städte mit 3-D-Grafiken und Sounds, in denen man sich als kleine Puppe bewegt. Das ist die nächste Stufe.

Übt man in diesen Städten ein neues Sozialverhalten?

Ich glaube, das Internet ist eher ein Labor für politische Ideen. Man kann sehr leicht ein kleines virtuelles Land mit bestimmten Gesetzen aufbauen und, wenn es nicht funktioniert, wieder abreißen. So kann man in gewisser Weise mit einem politischen System experimentieren.

Aber in sozialer Hinsicht gibt es nichts wirklich Neues im Internet, es ist eher altmodisch. Man schreibt sich wieder Briefe, E- Mails, blitzschnell über große Distanzen hinweg. Und wenn man sich die Netzromanzen anschaut, die es seit einiger Zeit gibt, dann hat das was von den Romanzen des 18. Jahrhunderts, als man sich auch schon bis zu drei Briefe am Tag schrieb. So etwas ähnliches gibt es heute wieder. Es ist dieses Gefühl für Distanz. Früher hatten wir viel mehr Distanz. Es war einmal skandalös, in der Öffentlichkeit den Fußknöchel einer Frau zu sehen. Mit dem Internet, wo man diejenigen, die da sind, nicht sieht, ist dieses Geheimnisvolle zurückgekehrt. Deswegen ist es so anziehend.

Wird das Internet die Politik der Zukunft verändern?

Das Internet hat schon jetzt großen politischen Einfluß. Einige Länder beschränken den Zugang zum Internet, weil sie erkennen, daß sie ihr eigenes politisches System untergraben, wenn sie ihren Bürgern Zugang zu Informationen aus der ganzen Welt geben. Deswegen beschränken China und Saudi-Arabien den Zugang zum Internet. Information ist der wahre Sprengstoff. Selbst in Amerika wird Kinderpornographie, die es leider auch im Internet gibt, als Anlaß genommen, soweit es geht, alles zu überwachen. Das ist möglich, weil Amerika wieder extrem puritanisch ist. Die Ironie dabei ist allerdings, daß das Internet entworfen wurde, um eine eiserne Kontrolle zu verhindern. Es war ein Projekt des amerikanischen Verteidigungsministeriums. Dezentral organisiert sollte das Internet etwa einen Atomschlag überleben können, die Informationen sollten um die Wunde fließen können. Und so funktioniert es auch heute. Der einzige Weg, es zu kontrollieren wäre, das Telefonnetz runterzufahren, an dem es hängt. Das wird schon wegen der Banken und Krankenhäuser niemand wagen.

Das Internet schafft neue politische Einflußmöglichkeiten?

Natürlich, wenn 5.000 Menschen in einem Land etwas erreichen wollen, und sie können nicht kommunizieren, werden sie nichts tun. Mit dem Internet können sie über das ganze Land verstreut sein und sich trotzdem ganz einfach verständigen und kommunizieren. 5.000 Leute sind sehr viel, wenn sie an einem Strick ziehen. Die amerikanische Regierung ist zum Beispiel sehr besorgt über den militanten Untergrund, die rechtsextremen Milizen, die sich über die mächtige, Steuern kassierende Regierung ärgern. Jetzt sind das nicht mehr bloß lokale Gruppen mit Kurzwellensendern. Andererseits kann jeder sehen, was die im Internet so treiben. Vielleicht ist es jetzt sogar leichter, sie zu infiltrieren.

Beschert uns das Internet eine Mehrheit neuer Minderheiten und Subkulturen?

In Amerika haben wir schon lange diese Mehrheit. Für Florida wird geschätzt, daß ab 1996 männliche Weiße in der Minderheit sind. Wir haben Schwarze, Weiße, Leute aus Asien, Europa und Südamerika. Das ist Amerika, und in diesem Sinne ist es dichter am Internet als ein Land wie Japan. Der Nationalismus geht offenbar unter. Das Internet spiegelt das wieder. Aber was Subkulturen anbelangt, ist fraglich, ob es die überhaupt noch gibt. Wir haben keinen echten Mainstream mehr, gegen den man als Bohémien kämpfen könnte. Das ist nur noch ein Mythos, der sich gut vermarkten läßt, wie der Erfolg von Nirwana beweist. Underground ohne Mainstream ist aber Obskurantismus oder Terrorismus.

Künstler wie Laurie Andersen oder The Residents machen jetzt auch CD-ROMs, die intelligente Videospiele sind. Wohin führt das?

Alles vermischt sich. Alles beeinflußt alles andere. Wir haben Filme, die aus Videospielen gemacht werden. Videospiele sind erst fünfzehn Jahre alt, doch sie sind schon überall. So werden sie zum Bestandteil der Mythologie unser Popkultur. Man muß sich ein kindliches Staunen über die Welt bewahren, denn sie ist wirklich ein sehr seltsamer Ort. Interview: Dirk de Pol

In diesen Tagen erscheint: J. C. Herz: „Surfen auf dem Internet“. Deutsch von Thomas Bremer. Rowohlt Verlag, 318 Seiten, 38 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen