: Wahnsinnige Hirne von Easties
Klaus Chattens Stück „Prunksitzung“ wurde nicht wie geplant am Deutschen Theater Berlin, sondern als „Sugar Dollies“ im Londoner Gate Theater uraufgeführt, einem kleinen Haus, das in der Londoner Szene als Sprungbrett gilt ■ Von Jürgen Berger
Die Liste der Unterstützer ist groß, die Bühne klein. Ein Theater dieser Größenordnung würde bei uns unter der Rubrik „Studentenbühne“ laufen, Schauspieler aus deutschen Stadttheatern hätten Probleme, eine Bühne mit diesen Ausmaßen überhaupt zu betreten. Das Gate Theater liegt am Rande des Londoner Zentrums und in einiger Entfernung zu dem eigentlichen Theaterviertel, wo zwischen Picadilly Circus und Themse das altehrwürdige Sprechtheater in einem Meer von „Tommy“, „Cats“ und „Buddy“ unterzugehen droht.
Im Savoy etwa gibt es gerade „Doppeltüren“ (die deutsche Erstaufführung fand kürzlich in Stuttgart statt), vom Autor Alan Ayckbourn selbst inszeniert. Am Royal Court steht Nigel Williams „Harry and me“ auf dem Spielplan. Der Kreis schließt sich. Der neue Intendant des Royal Court leitete zuvor das Gate Theater, das in der Londoner Theaterszene als Sprungbrett gilt und gerade mit einer Gate-Biennale einen Überblick über zeitgenössisches europäisches Theater gibt.
Eine ambitionierte Spielstätte mit großem Output an typisch englischem, schnellem Theater. Anfang des Jahres etwa war Elfriede Jelineks „Raststätte“ zu sehen, dann kamen Stücke von jungen schwedischen und russischen Autoren. Zur Zeit gibt es an einem Abend hintereinander „Nach dem Regen“ des Spaniers Sergi Belbel und das neue Stück des 33jährigen Klaus Chatten, dem Senkrechtstarter unter deutschen Jungautoren.
Das Pikante: Mit der Premiere von „Sugar Dollies“ kann das Gate Theater sich gar eine Uraufführung auf die Biennale-Fahne schreiben, da das Deutsche Theater Berlin, das die Uraufführungsrechte eigentlich besitzt, zu lange zögerte. Dort wird „Sugar Dollies“ unter seinem deutschen Titel „Prunksitzung“ nun erst zum Anfang der nächsten Spielzeit zu sehen sein.
Inzwischen kann sich das deutsche Publikum damit trösten, daß das Berliner Zögern zumindest für den singulären Fall einer „externen“ Uraufführung eines neuen deutschen Stückes sorgte. Und das ausgerechnet in den Tagen, da die deutsche Grenze für englische Rinder mit Wahnsinn in den Gehirnen geschlossen wurde. Und ausgerechnet mit einem Stück über den Wahnsinn in den Gehirnen deutscher Postvereinigungsindividuen.
Wo der vorkommt? Im Sauerländischen zum Beispiel, wo auch Klaus Chatten dereinst auszog, um in Berlin sein Glück zu suchen. „Lennestadt“, sagt er und lacht so herzhaft, daß man es im „Prince Albert“ mitbekommt, einem Pub, das zum Gate Theater gehört. Chatten ist alles andere als ein muffiger Schreibtischtäter, sitzt vor dem obligatorischen Half Pint und genießt sichtlich, daß ihn der Erfolg unaufhaltsam übermannt. Derzeit schreibt er an einer Serie für den WDR, in London weilt er seit zwei Wochen auf Einladung des Goethe-Instituts.
London, das ist für ihn überhaupt die „erotischste“ Stadt. Erotisch? Klar, meint er, erotisch sei, wenn man sich authentisch verhalte und direkt kommuniziere. Und genau das erlebe man hier in London wie sonst nirgends. Er könnte recht haben, vor allem wenn man bedenkt, daß die direkte Kommunikation eine Etage höher gerade hervorragend geklappt hat und britische Zuschauer sich in einer Preview von „Sugar Dollies“ bedenkenlos auf ein Duo infernale aus dem Sauerländischen eingelassen haben: Auf Tochter Tabea, die übergewichtig und im Robin-Kostüm auf dem Klo Kirmes-Erdbeeren in sich stopft; und Mutter Babette als Batman-Furie, die die letzte Phase karnevalesker Frohsinnsaufrüstung einläutet.
Fasching steht vor der Tür, und die Tochter soll denn doch noch einen Karl abbekommen. Klaus Chatten hat diese Szene in schönstem Slang geschrieben, was in der englischen Übersetzung bedauerlicherweise unter den Tisch fallen muß. Ähnlich ergeht es einigen Details deutscher Karnevalsriten. Was bleibt, reicht allerdings immer noch aus, auf der Bühne an der Pembridge Road einen latenten deutschen Alltagsfaschismus durchschimmern zu lassen.
Dieser war schon Chattens Thema im inzwischen zum Renner avancierten Bühnenmonolog: „Unser Dorf soll schöner werden“; in „Sugar Dollies“ bildet er die Negativfolie einer wild entschlossenen Fröhlichkeit, die das Stück durchzieht und die Linda Broughton in einer direkten an deutschen Komödienstadel erinnernden Direktheit über die Rampe powert.
Sie spielt die Mutter und ist die Ausnahme in einer für englische Verhältnisse ansonsten bemerkenswert nuancierten Inszenierung der jungen Regisseurin Indhu Rubasingham. Bei Nina Conti etwa, als Tochter Tabea, weiß man nicht, ist das lediglich ein regrediertes Pummelchen oder eine in deutschen Provinzen gereifte Zeitbombe, die der Mutter demnächst den Batman-Kopf von den Schultern reißen wird. Und das alles mit wenig Text, aber umso mehr Bühnenpräsenz.
Dann kommt die Überraschung: Mutter Babette hat an Wim de Cuyp und Kalina de Sampinka geschrieben, prompt wird die Tochter zum Casting für deren Show geladen. Man sieht die beiden in einem Berliner Hotel wieder, wo die Casting-Beauftragte der Show residiert. Im Vorzimmer protzt Mutti Babette, in einer Provinzvariante von „Wetten, daß...?“, fünfzig Ostler dem Geruch nach unterschieden zu haben.
Hier treffen Mutter und Tochter auch auf Rosy, eine arbeitslose und auf Penthesilea spezialisierte Schauspielerin mit Intendantenallergie. Sie sorgt dafür, daß sich am Ende denn doch sehr viel auf der kleinen Londoner Bühne stapelt. Es kommt zum Spiel im Spiel, Rosy probt mit den beiden Provinznudeln eine schräge Groteske über Deutschlands unverdautes tausendjähriges Reich. Der Mutter reißt es wie von selbst den Arm zum Hitlergruß hoch, die Tochter allerdings hat sich das Bärtchen unter die Nase geklebt. Und plötzlich kriecht Hitler als kläffender Pitbull im Casting-Vorzimmer.
Chatten trägt ziemlich dick auf, das für deutsche Stadttheaterverhältnisse sehr junge Publikum auf den knapp hundert und bis auf den letzten Platz belegten Sitzen allerdings hatte keinerlei Probleme mit dieser Art der Hitlerpersiflage. Im Gegenteil. Man nahm es als Ulk und nicht, wie Chatten es wohl gern hätte, als harten Kern der Groteske. An deutschen Bühnen wird sich das wohl ändern.
Anders die Situation in der Mitte des Stücks, wenn sich allmählich eine Ost-West-Story einschleicht, und sowohl Chatten als auch die Inszenierung es schaffen, etwas von der Zerissenheit sichtbar zu machen, die die jüngste deutsche Geschichte in manchen Biographien hinterlassen hat.
Ossis heißen in England Easties. Eine von ihnen ist Peterchen, die einer mondänen Casting-Lady mit geballter westlicher Herablassung gegenübersitzt. In dieser Passage war man auf der Bühne und im Zuschauerraum hellwach, jede Regung im Gesicht der überragenden Rose Keegan wurde nachvollzogen, die die verunsicherte, geduckte, immer zu einer Entschuldigung bereite Ossie spielte, von Chatten wie eine tragische Insel in die Groteske gepflanzt. Das Casting endet als Desaster, aber plötzlich beginnt Peterchen vom 9. November zu erzählen, und wie sie als einzige durchs Brandenburger Tor ging. Das Blickduell mit dem Vopo und auf der anderen Seite die Wessis, die sie ermunterten. Soviel Aufbruch und gleichzeitig Absturz war nie.
Unten im Pub dann geht das Leben im wahnsinnsgebeutelten Königreich weiter. Klaus Chatten antwortet auf die Frage, warum ein Schauspieler plötzlich mit dem Schreiben anfängt, er habe auf der Bühne zwei Ziele gehabt: den Alceste in Molières „Menschenfeind“ zu spielen und bei Georg Büchners „Leonce und Lena“ selbst Regie zu führen. Beides hat er erreicht, da blieb nur noch der Laptop und die traurige Tatsache, daß er seither eine sitzende Tätigkeit ausübt. Es traf sich also ganz gut, daß die Einladung nach London kam und er für die WDR-Serie ziemlich weit rumkommt. Kürzlich zum Beispiel mußte er tatsächlich an den Gestaden einer bekannten Neckermanninsel surfen. Alles Recherche, versteht sich.
„Sugar Dollies“ (Prunksitzung) von Klaus Chatten. Regie: Indhu Rubasingham. Mit: Nina Conti, Rose Keegan u. a., Gate Theater, London
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