: Die Heilung hat begonnen
Zwölf Tage lang ging eine Ruanderin zu Fuß durch ihr Heimatland, auf den Spuren des Völkermordes und seiner Bewältigung. Ein Tagebuch ■ Von Doris Munganyinka Auclair
3. März. Ich stehe um 6 Uhr auf und mache mich um halb sieben auf den Weg aus Gisenyi heraus. Es ist wunderschön um diese Tageszeit. Aber ich kann den Blick auf den Kivu-See nicht richtig genießen. Hier nahe der Grenze zu Zaire könnten überall Landminen versteckt sein. Ich schaue genau auf jeden Spalt in der Teerstraße und mache um größere Löcher einen Bogen.
An der Kreuzung, wo die Straße nach Kigali abzweigt, liegt eine etwa 50jährige Frau mitten auf dem Asphalt, so daß kein Auto sie verfehlen kann. Sie flucht laut gegen unsichtbare Mörder: „Ihr habt meine Kinder getötet und meine Nachbarn, und mich habt ihr hier alleingelassen! Hoffentlich merkt ihr einmal selber, wie das ist! Vielleicht tretet ihr ja mal auf diese Dinger, die ihr auf die Straßen legt, und fliegt in die Luft! Dann werde ich lachen! Hahaha...!“
4. März. Wenn ich an Menschen vorbeikomme, sehen sie mich freundlich und fragend an. Sie sagen „mwaramutse“ (Guten Morgen) und gehen weiter Richtung Markt. Die Männer benutzen handgemachte Holzfahrräder und Schubkarren. Die Frauen tragen ihre Ware auf dem Kopf. Ich frage eine Frau: „Warum habt ihr keine Fahrräder?“ Sie antwortet: „Die Männer haben genug Zeit, um Fahrräder zu bauen. Aber wir Frauen müssen kochen und auf die Kinder aufpassen. Wo sollen wir die Zeit zum Basteln hernehmen?“
Auf halbem Weg nach Ruhengeri schreit mich aus einem Haus heraus plötzlich ein Mann an: Er werde die begonnene Arbeit schon noch erledigen, er werde meinen langen Hals würgen und mir meinen schwarzen Hut in den Mund stopfen. Ich blicke auf diese traurige Kreatur, die nicht damit klarkommt, daß einige von uns Tutsi noch am Leben sind, und mache eine abfällige Handbewegung. Vor dem Haus, in dem der Mann offenbar festgehalten wird, sitzt ein Soldat. Er nimmt vom Geschrei des Mannes keinerlei Notiz.
5. März. Zehn Kilometer hinter Ruhengeri schließen sich mir zwei zehnjährige Mädchen an. Eine von ihnen, Nkundufite, erklärt mir, daß sie ihre Mutter und andere Familienangehörige verloren hat, weil „diese Leute“ sie Tutsi nannten. Nur ihr Vater ist ihr geblieben. Ihre Freundin Mujawamaria hat alle Verwandten verloren, außer ihren zweijährigen Bruder. Für den ist sie nun Mutter, Vater und Schwester in einem. Die beiden Mädchen tragen Maissäcke vom Markt in Ruhengeri nach Hause. Am Nachmittag wird Nkundufite zur Schule gehen. Mujawamaria kann ihre Elterntätigkeit nicht mit dem Schulbesuch vereinbaren.
6. März. Auf dem Weg nach Rulindo treffe ich einen Twa (Ruandisches Pygmäenvolk – d. Red.). Er erzählt mir, daß er während des Völkermordes in den Gishwati- Wald floh und dort überlebte. Er ist zwischen 17 und 22 Jahre alt und hat einen fünfjährigen Sohn. Er macht immer noch wunderschöne Töpfe (Töpferei war in der traditionellen ruandischen Gesellschaft die anerkannte Tätigkeit der Twa- Pygmäen – d. Red.) und heißt Baragahingana. Ich frage ihn nach seinem Vornamen. Seine Antwort lautet: „Ich arbeite noch daran.“
Gemeint ist: Er ist noch dabei, Christ zu werden und einen christlichen Vornamen zu erhalten. Aber diese Christen, meint er, haben so viele von ihren eigenen Leuten umgebracht und stecken diese Dinger in die Straßen, mit denen sie Leute in die Luft sprengen, die sie nicht einmal kennen. „Soll ich wirklich einer von ihnen werden?“ fragt er und fügt hinzu: „Ich werde noch eine Weile darüber nachdenken...“
7. März. Der Weg Richtung Kigali geht vier Stunden lang bergauf. Auf halbem Weg gesellt sich ein junger Radfahrer zu mir, steigt ab und schiebt sein Rad neben mir zwei Stunden lang den Berg hoch. Man kann Mitreisende nicht alleine lassen, sagt er. Ich bin so müde, daß ich ihn nicht einmal nach seinem Namen frage. Es ist so heiß, daß mein Kopf sogar unter meinem Hut richtig brennt.
10. März. Ich breche frühmorgens nach Butare und Kibeho auf. Dichter Nebel bedeckt die Berggipfel. Ich werde auf die UNO- Fahrer aufpassen müssen. Ich weiß gar nicht, wie ich sie bisher überstanden habe. Fragt man Kinder nach der UNO, sagen manche, daß UNO für Leute steht, die sehr schnell fahren. Die meisten Erwachsenen sagen, daß die UNO wenig bringt. UNO sollte für vereintes Handeln stehen, sagen sie, nicht vereintes Zuschauen.
Als Kind ging ich in der Nähe von Butare auf eine von Weißen geführte Missionsschule. Damals (zur Zeit der Hutu-Revolte gegen die traditionelle Tutsi-Herrschaft, die das Ende der belgischen Kolonialherrschaft einläutete – d. Red.) kamen einmal Vertreter der UNO, um zu sehen, ob in Ruanda alles in Ordnung war. Wir wurden in eine Reihe gestellt, um den UNO-Leuten zu beweisen, daß es uns gut ging. Keiner von ihnen stellte uns irgendwelche Fragen.
Hätten sie uns gefragt, hätten sie die Wahrheit erfahren. Wir hatten gerade eine neue Schulleiterin bekommen, die uns bei jeder Gelegenheit fragte: „Seid ihr Tutsi von Geburt an schlecht?“ Und zum Frühstück teilte sie uns auf – die Tutsi-Kinder bekamen Weizenbrei, die Hutu-Kinder ein richtiges Frühstück mit Brot und Eiern. Mit mir war sie sauer, weil ich mein Tutsi-Frühstück mochte, so daß diese Strafe nicht funktionierte. Also dachte sie sich etwas anderes aus: Einmal hatte ich meine Bibel in der Kirche vergessen, und ich bat um Erlaubnis, sie zu holen. Sie sagte, als Kommunist bräuchte ich keine Bibel. Bis heute weiß ich nicht, was die Tutsi mit Kommunismus zu tun haben.
11. März. Ich komme an der Schule von Kabgayi vorbei, als die Kinder gerade zur Mittagspause herauskommen. Eine Schülergruppe läuft mit mir und die Kinder erklären mir, was sie heute gelernt haben: Sie haben ein Lied über Jesus gesungen. Ich frage sie, was sie später einmal machen wollen. Die meisten wollen Ärzte, Krankenschwestern oder Nonnen werden, weil man dann im Auto herumfahren kann. Präsident oder Bürgermeister wollen sie nicht sein. Warum nicht? Frage ich. Sie sagen: Diese Leute führen kein interessantes Leben.
Ein alter Mann, etwa 55 Jahre alt, geht langsam und offenbar unter Schmerzen die Straße entlang. Er erzählt mir, daß er am Morgen ins Gesundheitszentrum der katholischen Kirche in Kabgayi gegangen ist. Dort sagte man ihm, sein Geld habe nur für die Diagnose und das erste Rezept gereicht. Nun müsse er weitere 5.000 ruandische Francs zahlen. Er hat aber kein Geld. So mußte er mit seinem Magengeschwür wieder nach Hause gehen. Hätten sie ihn nicht wenigstens nach Hause fahren können?
12. März. Im Sonnenaufgang treffe ich zwei Männer und frage sie, was sie über die Gerechtigkeit in bezug auf den Völkermord denken. Einer, wohl knapp über 30, erzählt mir eine Geschichte, die sein Großvater ihm einst erzählte: Die Geschichte des Kamegeri-Felsens. Er zeigt mir den Felsen, als wir an ihm vorbeigehen. Die Häuptlinge, darunter Kamegeri, brachten einen Verbrecher zum König. Der König sagte, sie sollten sich eine gerechte Strafe ausdenken. Kamegeri schlug vor, um den Felsen herum Feuer zu machen, bis der Stein vor Hitze glüht, und den Mann dann auf den Felsen zu legen. Das taten sie denn auch. Als der Felsen glühte, sagte der König zu Kamegeri: Weil du noch grausamer bist als dieser Mann, wirst du jetzt auf den Felsen gelegt. Wir dürfen nicht grausamer sein als diejenigen, die wir beschuldigen.
13. März. Der Morgen ist frisch. Gegen zehn Uhr morgens treffe ich eine etwa 40jährige Frau namens Virginia. Sie ist auf dem Weg ins Gemeindeamt, um die Behörden zu bitten, die Leute zu finden, die während des Völkermords ihre Kühe stahlen. Sie hatte Glück, denn einige Hutu-Nachbarn hatten die Diebe gesehen und ihr später davon erzählt. Sie zeigt mir die schriftlichen Zusagen der Diebe, ihr Entschädigung zu zahlen, aber sie hat noch kein Geld bekommen. Sie hätte sowieso lieber ihre Kühe zurück. Kurz vor Butare fängt es an zu regnen.
14. März. Ich beginne die Wanderung in meine Heimatstadt Kibeho. Es ist zwei Tage früher als geplant, also rechnen meine Brüder noch nicht mit mir. Butare ist menschenleer, außer einigen Leuten auf dem Weg zum Markt.
Vom Gipfel des Hügels sehe ich meine einstige Heimat. Die Gegend ist leer. Aber es gibt ein paar neue, noch unfertige Häuser, und einige Felder werden bebaut. Ich komme am Haus meiner Brüder vorbei, aber alle sind draußen. Die Frau meines Bruders will die Kinder holen, aber ich sage, sie sollen mit ihrem Alltag weitermachen, der ist wichtiger. In zwei Tagen bin ich sowieso wieder da.
Kibeho ist voller Ruinen, aber immer noch imposant. Ich steige hoch zur Kirche. Meine Familie saß immer ganz vorne, aber da kam es mir immer so vor, als ob alle hinter uns die ganze Luft einatmeten und für mich nur noch übrigblieb, was ausgeatmet wurde. Immer wenn mein Vater woanders hinguckte, stand ich auf und ging nach hinten, wo es frische Luft gab. Der Priester kam dann immer hinterher und zog mich zurück auf meinen Platz. Dann schaute mich mein Vater hart an. Aber wenn die beiden wieder mit Singen und Lesen beschäftigt waren, ging ich wieder nach hinten. Das ganze wiederholte sich immer vier- bis sechsmal während der Messe. Mein Vater sang sehr gerne und hatte eine Stimme wie Nat King Cole. Leider hat von uns Kindern niemand diese Stimme geerbt.
Ich verlasse die Kirche in Trauer über die vielen Menschen, die hier ihr Leben gelassen haben, weil sie dachten, in der Kirche wären sie sicher. Nur die Kirche steht noch: Erinnerung daran, daß es nirgendwo Sicherheit gab.
Die Menschen scheinen mehr Vertrauen zu haben als letztes Jahr, und damit meine ich nicht nur die Bauarbeiten überall. Als ich im vergangenen April hier war, sah ich sehr viele Menschen auf den Straßen. Ich suchte in ihren Augen nach ihren Seelen – und fand sie nicht. Jetzt sehe ich, daß ihre Seelen wieder zurückgekehrt sind. In den Augen ist Leben. Der Heilungsprozeß hat begonnen.
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