piwik no script img

Kein Geld, kein Gewissen

■ Dank Genschers Coup gehen NS-Opfer leer aus

In Griechenland beginnt heute ein Prozeß gegen den deutschen Staat. Der Beklagte ist der Vorladung nicht gefolgt, die deutsche Botschaft in Athen verweigerte die Annahme der Klageschrift. Für die Bundesregierung sind die Entschädigungsforderungen der 162 Nachkommen von ermordeten Bewohnern des Dorfes Distomo ein grotesker Anachronismus. 50 Jahre nach Kriegsende habe die Reparationsfrage „ihre Berechtigung verloren“, heißt es in Bonn. Das soll eine naturgesetzliche Verfallszeit suggerieren. Aber daß die Einheit Deutschlands hergestellt wurde, ohne die Reparationsforderungen der Kriegsgegner zu aktualisieren, war gekonnte Außenpolitik made by Genscher. Der ersetzte den fälligen Friedensvertrag durch das berühmte Zwei-plus-vier-Modell. Dieses diplomatische Meisterstück ist auch deshalb einmalig, weil sich niemand mehr daran erinnern will. Klar, daß sich auch Genscher nicht öffentlich damit brüstet.

Doch wenn auch die deutsche Publizistik alle einschlägigen Jubiläen – 50 Jahre Kriegsende, fünf Jahre Vereinigung usw. – verstreichen ließ, ohne die glückliche Erledigung der Reparationsfrage zu erwähnen, stellt sich die Frage nach den Gründen für die kollektive Vergeßlichkeit. Noch vor zehn Jahren wäre undenkbar gewesen, daß etwa die professionellen Sudetendeutschen ihre Entschädigungsphantasien outen dürfen, ohne daß ihnen mit politischen Argumenten der Mund gestopft worden wäre – etwa mit dem Hinweis, daß es eine Reparationsfrage auch für die Tschechen gibt und nicht nur für sie.

Daß diese Frage heute keine moralische Zerknirschung mehr erzeugt, hat auch materielle Gründe. Nach der Vereinigung hat Deutschland doch noch für die Kriegsfolgen blechen müssen, nämlich für das gescheiterte Nachkriegsmodell im Osten. Aber das Geld blieb innerhalb der Volksgemeinschaft. Für Polen, Jugoslawen und Griechen, die ja nicht zu den Tätern gehörten, bleibt da nichts mehr übrig, kein Geld und auch kein schlechtes Gewissen.

Ist das der Grund, warum der Prozeß in Livadia die deutsche Öffentlichkeit sowenig berührt wie die deutsche Staatskasse? In Bonn weiß man, daß die Forderungen aus Distomo moralisch berechtigt, aber juristisch nicht durchsetzbar sind. Also schnell vergessen. Sie könnten uns an den Coup von 1990 erinnern. Niels Kadritzke

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen