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Eine Art Trümmertourismus

Nach fünfzehn Jahren Bürgerkrieg ist der Libanon wieder Reiseziel. Historische Ausgrabungsstätten wie Baalbek oder die zerstörten Teile Beiruts locken interessierte Studienreisende  ■ Von Beate Seel

Das Denkmal auf dem zentralen Märtyrer-Platz der libanesischen Haupstadt Beirut steht noch. Auch die Einschußlöcher in der wuchtigen Plastik sind zu sehen. Zu den Füßen eines Paares liegt ein Verwundeter in der Pose eines griechischen Gottes, der seinen Arm um Hilfe ausstreckt – ein Mahnmal für die Opfer des Bürgerkrieges in den Jahren 1975 bis 1990, könnte man meinen. Errichtet wurde die Plastik jedoch zum Gedenken an die libanesischen Nationalisten, die in den Jahren 1915 und 1916 von den osmanischen Herrschern ermordet wurden.

Beirut blickt in die Zukunft. Die Vision von der schönen neuen Stadt ist auf einem überdimensionalen Plakat der Aktiengesellschaft Solidère zu sehen, die für den Wiederaufbau der Innenstadt zuständig ist. Es wurde dort aufgestellt, wo die abgebildete Szenerie einst Wirklichkeit werden soll. Wenn sich die Träume der Planer verwirklichen, wird sich vom Märtyrer-Platz eine breite Fußgängerpromenade hinunter zum Strand ziehen: Zwischen sorgfältig gestutzten Rabatten unter blühenden Bäumen flanieren Menschen. Breite Alleen säumen die Anlage zu beiden Seiten. Schaufenster und Staßencafés laden zum Bummeln und Verweilen ein. Zwischen den modernen sechsstöckigen, hell verputzen Gebäudekomplexen gibt das Ende der Promenade den Blick frei auf das Mittelmeer. Am Ufer stehen Palmen, und über alldem wölbt sich ein blauer Himmel.

Doch heute strecken dort die Kräne des Beiruter Hafens ihre Hälse in einen dunstigen Himmel. Davor aufgewühlte rote Erde, Rohre werden verlegt, das Gelände planiert, Bagger und Preßlufthämmer knattern, Lastwagen donnern vorbei, Autos hupen, die Luft ist staubig, und es stinkt nach Benzin. Mitten in dieser Mondlandschaft buddeln Archäologen, bewacht von einem gelangweilten Soldaten mit Maschinengewehr, nach den Spuren früherer Besiedelung. Ausgrabungen haben Spuren finden lassen, die bis in die Bronzezeit vor 5.000 Jahren zurückreichen.

Verödet ist die Fassade des ehemaligen Opera-Kinos: Die Fensterhöhlen des Erdgeschosses sind zugemauert, in den oberen Stockwerken hat die Natur ihren Platz zurückerobert, Gras und kleine Büsche wachsen auf den Simsen. Daneben ein fünfstöckiger Kolonialbau aus ockerfarbenen Steinen mit abgerundeten Ecken, die Vorspünge an der Fassade lassen noch ahnen, wo früher die Balkons entlangliefen. In den Fenstern und Balkontüren liegen Sandsäcke, hinter denen sich einst die gefürchteten Scharfschützen verbargen.

Von den zerstörten großen Hotels, wie Hilton oder Holiday Inn, sind nur noch die Gerippe der Außenmauern übrig. Die Ruinen zweier Moscheen, einer griechisch- orthodoxen, einer griechisch-katholischen und einer maronitischen Kirche auf engstem Raum erinnern an die Zeiten, als das Zusammenleben der 18 Religionsgemeinschaften des Landes noch möglich war. Vom Souk, dem orientalischen Markt, ist nichts mehr übrig.

Die Hauptstadt Beirut ist wiedervereinigt

Dieses Zentrum Beiruts wurde während des Bürgerkrieges fast völlig zerstört. Hier verlief die sogenannte grüne Linie, die den christlichen Osten der Stadt vom überwiegend muslimischen Westen trennte. Heute ist die Stadt wiedervereinigt. Gebäude werden abgerissen oder restauriert, Brücken erneuert, Schneisen für neue Straßen geschlagen, häßliche, mehrstöckige Betonklötze in wenigen Monaten hochgezogen, die Kanalisation erneuert. Ein Wirrwarr von Telefonleitungen und Stromkabeln hängt von Masten und Hauswänden.

Im Zentrum steht auch der Klotz des Nationalmuseums, in der Nähe einige römische Säulen, zu ihren Füßen des Denkmal des unbekannten Soldaten. Während des Bürgerkrieges war das Museum in aller Munde: Der sogenannte Museumsübergang war die am häufigsten frequentierte Passage zwischen Ost und West – wenn sie geöffnet war. Viele kamen hier zwischen den Kontrollposten auf beiden Seiten ums Leben, wenn sie ins Visier von Heckenschützen gerieten oder die Kämpfe ausbrachen.

Als Tourist mag man das Gefühl haben, noch ein Stück Zeitgeschichte mitzuerleben. Für die Einwohner der libanesischen Hauptstadt stellt sich das anders dar. „Wenn ich zum Beispiel an einem Haus entlanggehe, erinnere ich mich mit frischem Schmerz an meinen Freund, der dort gewohnt hat und der vor vielen Jahren nachts an einer Straßensperre getötet wurde“, schreibt die palästinensisch-libanesische Schriftstellerin Jean Said Makdisi in ihrem Buch „Beirut Fragments“. „An einer Straßenecke erinnere ich mich daran, als das Geschoß landete und die Mutter des Freundes meines Sohnes tötete ... Jedes dieser physischen Wahrzeichen und so viele andere auch sind Meilensteine meiner inneren, schmerzlichen Reise. Erinnerungen schwappen über den Stadtplan, und die Schichten der Zeit verändern seine Schattierung.“

In der ehemaligen Prachtstraße Hamra versucht ein hilfloser Polizist, Ordnung in das Verkehrschaos zu bringen. Ampeln gibt es kaum, und wenn, blinken sie meist gelb. Was im Libanon auf vier Rädern fährt, übersteigt jede Phantasie. Ami-Schlitten aus den sechziger Jahren, Mercedesse, jede nur vorstellbare Variante von Rostbeulen und Schrottkarren bahnen sich ihren Weg durch die enge Straße. Geschrei, Gehupe, Gedröhne ... Dazwischen Verkäufer mit Holzkarren, die Sesamkringel und Brot anbieten, Fußgänger, die sich bemühen, auf die andere Straßenseite zu gelangen, junge Frauen im neusten Chic oder mit islamischem Kopftuch, Soldaten der libanesischen Armee ...

Vor den Fassaden der Kosmetikstudios, Juweliere, Schuhläden und Modegeschäften wird gebettelt. Die Preise auf westeuropäischem Niveau sind für die meisten unbezahlbar. Ein Drittel der Bevölkerung gilt als arm. Von den Plakaten an den Wänden grüßen der syrische Staatschef Hafiz al- Assad und schiitische Würdenträger und Politiker, ehemalige Milizchefs, die jetzt Ministerposten innehaben. Immerhin ist inzwischen der Lärm und Gestank der Generatoren weggefallen, denn seit drei Monaten gibt es wieder 24 Stunden am Tag Strom – eine spürbare Verbesserung für die Bevölkerung. Doch vom Bild der schönen neuen Stadt à la Solidère ist das real existierende Beirut weit entfernt.

Solange die Bürgerkriegsruinen noch stehen, ist Beirut auch Anziehungspunkt für eine Art indirekten Kriegstourismus oder -voyeurismus. „Man hat das Gefühl, der Hauch der Geschichte weht an einem vorbei“, so eine Mitreisende. Wenngleich die eigentlichen touristischen Reiseziele des Landes andere Trümmer sind. Nämlich die archäologischen Ausgrabungsstätten von Baalbek, Aanjar, Jbail oder Tyros. Neben seiner Landschaft, Gastfreundschaft und Küche sind die Trümmer und Ruinen die Hauptattraktion des Libanon. Die neuen wie die alten.

Libanesische und syrische Soldaten

Wenn man die libanesische Hauptstadt und damit den schmalen, maximal 6,5 Kilometer breiten Küstenstreifen in Richtung Baalbek hinter sich läßt, schlängelt sich die Straße die Hänge des bis zu 3.000 Meter hohen Libanon-Gebirges empor. Beirut, in dessen Großraum über eine Million Menschen leben, ufert aus. Man merkt gar nicht richtig, wo die Stadt aufhört und ein neuer Ort anfängt – Aley, Bhamdoun oder Sofar, Orte, die im Krieg stark zerstört wurden. Hier hatten wohlhabende Beiruter Familien und Golf-Araber früher ihre Sommerresidenzen; massive Kalksteinbauten mit Außentreppen, Veranden und verwilderten Gärten zeugen noch davon. Gelegentlich fehlt das Dach, ist ein Teil des Hauses weggerissen, das Innere bloßgelegt.

Von der Paßhöhe sieht man die Bekaa-Ebene und bei klarer Sicht auch die Gipfel des Hermon im Süden. Flach wie eine Tischplatte erstreckt sich die Bekaa auf einer Höhe von 1.000 Metern, eingebettet in die einst bewaldeten, heute aber kahlen Hänge der Gebirgsketten des Libanon und Antilibanon. Ein Schachbrett aus grünen Feldern, Baumgruppen, umgepfügten dunkelroten Äckern und kleinen Ortschaften. Entlang dieser Hauptverkehrsstraße Beirut– Damaskus stößt man immer wieder auf Kontrollposten der libanesischen und syrischen Armee. Syrien hält noch immer mit rund 30.000 Soldaten einen Teil des Landes besetzt. Mit einem Rückzug ist nicht vor Abschluß eines Friedensvertrages mit Israel zu rechnen. Für Urlauber mag es ein ungewohntes und auch etwas ungemütliches Erlebnis sein, wenn Soldaten mit umgehängten Maschinengewehren ihre Papiere kontrollieren wollen. Häufig wird man aber einfach durchgewunken.

Baalbek, das etwa 90 Kilometer von Beirut entfernt liegt, ist die erste Station der „Trümmertour“. An der Ortseinfahrt ein großes Plakat des verstorbenen iranischen Revolutionsführer Ajatollah Chomeini. Hier war einst das Hauptquartier der radikalen schiitischen Hisbollah, zu deutsch Partei Gottes, die einzige libanesische Miliz, die noch nicht entwaffnet wurde, weil sie im Süden gegen die israelische Besatzung kämpft. Mittlerweile ist sie mit einigen Abgeordneten ins libanesische Parlament eingezogen. In Baalbek waren während des Bürgerkriegs auch rund 1.000 iranische Revolutionsgardisten stationiert.

Diese sind heute ebenso von der Bildfläche verschwunden wie zahlreiche der proiranischen Plakate; weniger Frauen tragen Tschador oder Kopftuch, und auf der gekachelten Terrasse des Palmyra-Hotel kann man auch wieder ein Glas Wein oder Bier trinken.

Baalbek hat wenig Charakter. Ein schnell hochgezogenes Neubauviertel hat sich einen Berghang erobert, entlang der einzigen größeren Straße bieten Händler Obst, Gemüse, Zigaretten und Souvenirs an: Postkarten, kleine Reiseführer in mehreren Sprachen, Modelle der römischen Tempelanlagen und sonstigen Schnickschnack. Außer den berühmten Ruinen hat der Ort, dessen Name soviel wie „Herr der Bekaa“ bedeutet, nichts zu bieten.

Von weit her sind die sechs noch erhaltenen, imposanten Säulen des Jupitertempels zu sehen, des Wahrzeichens der Stadt. Der Bau der Anlage wurde im Jahre 14 unserer Zeitrechnung unter Kaiser Augustus begonnen; man schätzt, daß die Errichtung des Tempels 50 Jahre in Anspruch nahm. Die Besichtigung der hochgelegen Anlage lohnt sich schon allein wegen des Blicks auf die Ebene und die schneebedeckten Bergspitzen. Und: Anders als an anderen weltbekannten Ausgrabungsstätten ist man fast allein. Zwei Besuchergruppen verlieren sich auf dem weitläufigen Gelände, in der Ferne vernimmt man das An- und Abschwellen des Verkehrs, gelegentlich piept ein Handy. Man kann überall herumlaufen, alles anfassen, Absperrungen – auch an Stellen, wo es steil hinabgeht – gibt es nicht.

Da der Libanontourismus erst wieder im Kommen ist, gilt das auch für andere Ausgrabungsstätten, sei es das nahe gelegene Aanjar, ein armenisches Dorf, wo man die Reste einer Stadt aus der Ommayadenzeit (661–750) besichtigen kann, oder Jbail, das historische Byblos, einer der ältesten, durchgängig bewohnten Orte der Welt. Schon vor 6.000 Jahren sollen hier Menschen gelebt haben. Das archäologische Ausgrabungsgelände von Jbail, einem süditalienisch anmutendem Fischerstädtchen, ist zwar nicht so eindrucksvoll wie Baalbek, dafür älter. Vier israelische Kampfflugzeuge drehen ihre Runde über Jbeil. Es ist die Woche nach dem mörderischen Anschlag der palästinensischen Hamas in Tel Aviv, bei dem 20 Menschen getötet wurden.

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