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■ MadridEin Ausflug auf die andere Seite

Der Fluß glitzert wie ein breites blaues Band im Sonnenlicht. Wir stehen da, die Arme vor der Brust verschränkt, auf das Geländer gestützt. Ich auf den Handlauf, meine fünfjährige Tochter muß sich mit einer Zwischensprosse begnügen. Wie oft habe ich als Kind von hier aus die Schiffe beobachtet, wie sie sich langsam den Rhein hinaufarbeiten? Ich kann mich nicht genau erinnern. Oft war es jedenfalls. Denn mein Elternhaus steht nur zehn Kilometer entfernt, dort wo der Schwarzwald beginnt. Mein Blick schweift hinüber zur Brücke über die 200 Meter breite Wasserstraße.

Als Kind wollte ich immer wissen, was auf der anderen Seite lag. „Frankreich“, hieß es. Hinübergefahren sind wir nie. Aber Franzosen kannte ich trotzdem. Sie lebten in großen grauen Wohnblöcken am Anfang des Tales, das meine Heimatstadt Baden-Baden beherbergt. „Besatzer“, nannten sie die Älteren. So auch mein Großvater. Er war der einzige, der mir vom Land auf der anderen Seite berichtete. Zweimal war er dort gewesen, 1914 bis 1918 und 1939 bis 1942. Erzählungen, die nicht vom täglichen Leben handelten, sondern vom täglichen Sterben.

16 Jahren war ich alt, als die 200 Meter über die holprige Brücke erstmals zu weniger als einer halben Minute Fahrt zusammenschrumpften. Ein freundliches Kopfnicken des Gendarms – meine Grenze war gefallen. Seither habe ich viele Grenzen gesehen. Doch nie wieder hat mich die Trennlinie zwischen zwei Ländern so beeindruckt wie der Rhein meiner Kindheit.

Bis letzten Herbst. Wieder stand ich da und schaute rüber auf die anderen Seite eines trennenden Wassers. Diesmal waren es 14 Kilometer: die Meerenge von Gibraltar. Ein kleiner marokkanischer Junge guckte hinüber. „Ich habe Durst.“ Die Worte meiner Tochter reißen mich schlagartig aus den Gedanken. „Eine Orangade“, wünscht sich die Kleine. Als der Kellner uns bedient, bin ich längst wieder in Gedanken. Immer wieder sehe ich den kleinen Marrokaner vor mir. Sehnsüchtig schaut er über das Wasser, das Afrika von Europa trennt – ein Blick voller Neugier auf das, was auf der anderen Seite liegt.Reiner Wandler

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