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Kulturkampf um Graffiti

Sie werden kriminalisiert oder von Sozialarbeitern entmündigt. Dabei setzen sich Sprayer mehr mit ihrer Umgebung auseinander als ihre Gegner  ■ meint Eberhard Seidel-Pielen

Hör mal, bei uns im Osten, da freuen sich die Leute, daß sie endlich eine schöne Hausfassade haben, und – schwupp! – nach einer Woche sind sie mit Graffitischmierereien zugebombt.“ Die Gesprächspartnerin aus Köpenick gibt weiter zu bedenken: „Darin drückt sich eine Mißachtung gegenüber Arbeit aus.“

In Berlin, Hamburg und Frankfurt reden sich Erwachsene die Köpfe heiß, was sie gegen die Schmierereien in öffentlichen Verkehrsmitteln und an Häuserwänden machen, wie sie den jugendlichen Übermut Einhalt gebieten können. Das schöne alte deutsche Volkslied „Laß doch der Jugend ihren Lauf“ ist ein romantisches. Jugendlichen und Heranwachsenden, darauf haben sich selbst die einst libertären Alten in den letzten Jahren geeinigt, müssen Grenzen aufgezeigt werden. Schließlich sind Sachbeschädigung, Körperverletzung und Vandalismus alles andere als Kavaliersdelikte.

Die inszenierte Kriminalisierung

Vor gut einem Jahr schlug der Polizeipräsident Alarm. Auf 200 Millionen Mark wurden von ihm die jährlichen Schäden durch Graffiti geschätzt. Die Folge: allgemeine Entrüstung über die minderjährigen Schmierfinken.

Mittlerweile bin ich allerdings schon lange genug im Geschäft, um zu wissen, daß es bei solchen Kampagnen neben der Suche nach Problemlösungen vor allem um die eigene Arbeitsplatzsicherheit geht, um Gelder, die einem das mehr oder weniger bedrohte Projekt über die nächsten Haushaltskürzungen retten. Die Zeiten sind hart, Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst werden knapp. Also ist es mehr als korrekt, wenn das Problem zunächst in altbewährter Manier definiert wird.

Stufe eins: Skandalisierung. Neben dem angerichteten volkswirtschaftlichen Schaden gibt es die für die Graffitiszene typische Beschaffungskriminalität, die gewaltsamen Rivalitäten und Revierkämpfe, den Drogenmißbrauch. So ist es zumindest Pressemeldungen zu entnehmen. Dieses Ausmaß einer offensichtlich mafiösen Szene war Normalbürgern, die bislang allenfalls über mißglückte häßliche Sprayaktionen den Kopf schüttelten, bislang nicht bewußt.

Stufe zwei: Eine solch jugendgefährende und innenpolitisch brisante Szene, die über keinerlei Selbstregulierungskompetenzen zu verfügen scheint, schreit förmlich nach Intervention. Deshalb begrüßen wir, die Bürger, die eingeleiteten Maßnahmen. Auch unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten ist es richtig, daß sich Polizei- und Justizbeamte, Soziologen, Pädagogen, Einrichtungen der Jugendhilfe, Schließer, Familien- und Bewährungshelfer an der Szene abarbeiten. Und last, but not least fällt für die Medienindustrie noch ein Häppchen ab.

Stufe drei: Auf die Skandalisierung folgt die Gegenrede, dann die Abschwächung des Problems, und was am Schluß bleiben wird, sind viel umgerührte heiße Luft und die eine oder andere Planstelle.

Was wäre, wenn Berlin graffitifrei wäre?

Keine tags, keine gesprühten Bilder mehr. Diese Vorstellung sollte mehr beunruhigen als die Zahl mißglückter Sprühaktionen. Denn das wäre ein Zeichen, daß sich die Jugendlichen nicht mehr um den ästhetischen Zustand, besser: die Mißstände ihrer Stadt, ihres Kiezes, ihres Reviers kümmerten; sie ihre Umgebung schutzlos Stadtplanern, den Sokos, den Verkehrsbetrieben überlassen würden.

Wer sprüht, der übernimmt Verantwortung für sein Umfeld. Er setzt sich mit Straßen und Plätzen auseinander, stellt Überlegungen an, was verbesserungswürdig ist, erzeugt neue Perspektiven und Sichtweisen, vermittelt Botschaften. Schlußendlich: Nicht Graffiti sind für die Verwahrlosung und Desintegration der innerstädtischen Bezirke bundesdeutscher Großstädte verantwortlich, sondern eine phantasielose Stadtentwicklungs- und Sozialpolitik.

Vor einem Jahr recherchierte ich für zwei Monate in Kleinstädten wie Quedlinburg, Wernigerode und Halberstadt. Die Jugendszene des Ostharzes wird bis heute von einer gewalttätigen, rechtsradikalen Szene dominiert. Sie hetzt, verfolgt und überfällt dort die bunte Szene. Eine Folge: Graffiti fehlen im öffentlichen Straßenbild. In Quedlinburg brauchen die Stadtväter keine Ermittlungsgruppe, um die kleine örtliche Sprayerszene im Zaum zu halten. Das erledigen dort die Rechtsradikalen. Sie haben die Angehörigen der HipHop-Szene zu ihren Feinden erklärt. Hinter dieser Frontlinie verbirgt sich natürlich ein bißchen mehr als schierer jugendlicher Übermut. Wer einen kleinen Einblick in beide Szenerien gewonnen hat, der weiß, daß sich dahinter in Wirklichkeit ein altdeutscher Kulturkampf verbirgt. Auf der einen Seite tummeln sich vor allem körperlich mehr oder weniger verkrampfte, gehemmte und an sich gehaltene Jungs. In der Sprayerszene dagegen herrscht eine andere Körperlichkeit – stärkere Expressivität, Stolz auf das eigene Aussehen, die eigenen Fähigkeiten und nicht Stolz auf Deutschland. Der Kampf der Rechten im Ostharz gegen Sprüher und Breakdancer ist auch ein Kampf gegen die „entartete Kunst“ der Sprüher, in der zum Beispiel die Gegenständlichkeit zugunsten des kunstvollen „Writings“ aufgehoben ist.

In Quedlinburg brauchen sich die Bürger nicht über die Schmierereien der Graffitiszene zu erregen. Der Szene, die gern sprühen würde, bleibt der Schreibtisch zu Hause, an dem sie ihre Skizzen entwirft. Nebenbei bemerkt: Natürlich braucht auch diese Szene ab und an Freilufterfahrungen. Die holen sich die Sprayer auf Exkursionen in Berlin oder der nächsten Großstadt – in Magdeburg.

In diesen Wochen kündigte ein Boulevardblatt freudig erregt an, daß es den Schmierern nun ernsthaft ans Leder gehen solle. Eine polizeiliche Sondereinheit war gegründet worden, um die Szene auszuforschen und den Verfolgungsdruck zu erhöhen. Meine spontane und naive Hoffnung war, daß die zuständigen Beamten während der Annäherung an die Szene deren kulturellen Verführungen erliegen und ihre Arbeit verweigern würden; daß sie sich bewußt werden, an der Zerstörung einer Kultur mitzuwirken, die in den letzten 15 Jahren tragfähige Brücken des interkulturellen Lebens aufbaute.

Graffiti als Kommunikation

Was anderes als Kulturvernichtung ist es, wenn Wohnungen der Besten und Aktivsten durchsucht werden, die heiligsten Reliquien der Sprüher – Fotos, Blackbooks und Graffitivorlagen – als Beweismittel für Ermittlungsverfahren beschlagnahmt werden? Durch die Kriminalisierung werden der Szene wichtige Köpfe genommen und Innovationen verhindert.

Für die in den vierziger, fünfziger und der ersten Hälfte der sechziger Jahren Geborenen war es noch keine allzu große Herausforderung, auf welchen Kulturbegriff sie sich einigten oder von welchen Kulturen sie sich abgrenzten. Die gemeinsamen Wurzeln in der deutschen Geschichte und Tradition machten eine Verständigung – bei allen Differenzen – relativ leicht.

Auf welche gemeinsame Geschichte, auf welche Traditionen, auf welche vergleichbaren Familiengeschichten soll sich heute das bunte Mosaik der heranwachsenden Generation in der BRD verständigen? Angesichts der Heterogenität der ethnischen und sozialen Herkunftsmilieus keine leichte Aufgabe. Für die 14- bis 25jährigen sind die Kommunikations- und Interaktionsmuster der Älteren nicht mehr tragfähig. Es ist kein Zufall, daß sich die HipHop-Szene, deren Bestandteil neben Rap und Breakdance auch Graffiti sind, seit Mitte der achtziger Jahre zunächst in den innerstädtischen Einwanderervierteln entwickelte. Hier stellte sich das Problem neuer, interkultureller Kommunikationsformen am dringlichsten. Hier war der Druck, Sprachlosigkeit zu überwinden, am größten. HipHop war in der Vergangenheit das Medium, über das man sich, ungeachtet der kulturellen Verankerung der Eltern, an neue Kommunikationsformen herantastete und so den Dialog aufrechterhielt. HipHop verhinderte eine drohende ethnische Versäulung der vielfältigen communities, die sich in den letzten dreißig Jahren in Berlin niedergelassen haben. Und Graffiti sind das Esperanto, das in einer vielsprachigen Stadt eine Verständigung über die jeweiligen Herkunftsdialekte ermöglicht.

Weil der Szene diese herausragende zivilisatorische Wirkung zukommt, ist eine allzu intensive ethnologische Annäherung an die Szene kontraproduktiv. Kultur braucht (pädagogische) Freiräume, um sich weiterentwickeln zu können. Dies gilt im besonderen Maß für junge, sich gerade formierende kulturelle Strömungen. Auch Sozialarbeiter, die mit guten Absichten mit von der Kriminalisierung bedrohten Jugendlichen arbeiten, können dabei viel Porzellan zerschlagen. Sie verhalten sich ein wenig wie Missionare, die mit ihrem Sendungsbewußtsein, nach bestimmten (in diesem Fall christlichen) Werten zu leben, Stammesstrukturen zerstören, ohne neue, tragfähige anbieten zu können. Die Wirkungen solcher im wahrsten Sinne des Wortes Ent-Mündigung kann man in vielen Regionen Südamerikas oder Afrikas studieren: lebenslange Abhängigkeit von den Missionsstationen, Alkoholismus, Identitätsprobleme. Das mag im Sinne der eigenen Arbeitsplatzsicherheit nützlich sein, im Interesse der Jugendlichen ist es nicht.

Sicherlich, die tags und Graffiti haben etwas Diktatorisches an sich. Sie werden dem Betrachter aufgenötigt. Er wird mit ihnen konfrontiert – ob er will oder nicht. Aber ist das nicht nahezu mit dem gesamten Erscheinungsbild der Stadt so? Und selbst dort, wo Stadtentwicklung und -gestaltung demokratisch abgestimmt sein sollten, werden Interessen von Jugendlichen, Kindern und Alten nur selten berücksichtigt. Der Hinweis auf das diktatorische Element der Graffiti überzeugt nicht. Wären die Empfindlichkeiten wirklich so groß, müßten Kritiker den ganzen Tag angesichts vorherrschender Häßlichkeit und aufdringlicher Werbetafeln mit Schreikrämpfen durch die Stadt rennen.

Hinter der Aufregung muß noch etwas anderes stecken. Tatsächlich regen sich dieselben Kreise über den vermeintlichen Vandalismus der Graffitiszene am lautesten auf, die zum Beispiel – aus Umweltschutzgründen natürlich – ein Grillverbot im Tiergarten fordern. Könnte es sein, daß sich hinter den Anti-Graffiti-Protesten die Wut und Trauer über die verlorene (altdeutsche) kulturelle Dominanz in der Stadt verbirgt? Je mehr Graffiti die Stadt schmücken, desto deutlicher wird, daß etwas Neues in der Stadt heranwächst. Es ist etwas Fremdes, das man nicht versteht, nicht hören kann. Es ist eine neue Welt in der einst so übersichtlichen eigenen. Und dieses Neue macht angst. Diese Gefühle muß man in der Tat ernst nehmen. An dieser Stelle ist es unabdingbar, sich um Aufklärung und Dialog zu bemühen. Anstatt die U-Bahn- Wagen mit „Über Kunst und Geschmack kann man geteilter Meinung sein“-Aufklebern zu bepflastern, sollten die Berliner Verkehrsbetriebe darüber nachdenken, was sie zur Entwicklung der zivilen Gesellschaft beitragen können. Eine Plakataktion nach folgendem Motto bietet sich an: „Über Kunst und Geschmack kann man geteilter Meinung sein. Graffiti fördern den Dialog, helfen Berlin, zu sich selbst zu finden.“

Natürlich muß die Polizei Straftäter verfolgen, muß die Justiz Angeklagte verurteilen. Der Regelverstoß gehört zur Graffitiszene, auf das Aufreizende des Illegalen möchte sie gar nicht verzichten. Aber müssen wirklich immer die gleichen populistischen Konstruktionen angewandt werden? Nach Polizeirazzien wird der Öffentlichkeit regelmäßig suggeriert, es gebe einen Zusammenhang zwischen Graffiti und Drogen, einen Zusammenhang zwischen Graffiti und Diebstahl. Dann wird behauptet, die Szene verfüge über ein hohes Kriminalitätspotential, jeder vierte Sprayer besitze eine Waffe. Ist das nicht eine Zahl, die seit Jahren für die Berliner Schülerschaft behauptet wird? Dann Drogen, das häßliche Wort von der Beschaffungskriminalität. Mit Sicherheit gibt es unter Mitgliedern der Graffitiszene Drogenkonsumenten, Diebe etc. Na und? Was lehrt uns dies über den Charakter der Szene? Nichts! Denn ähnliches könnte die Polizei auch andernorts konstruieren und präsentieren. Zum Beispiel ein kleines Drogenlager nach einer Haussuchung bei den Gegenspielern. Ein illegales Waffenlager bei einer Großrazzia in den Wohnungen der Mitglieder von Schützenvereinen. Und jede Menge geklauter Ikonen in Zehlendorfer und Grunewalder Villen.

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