: Keine nachträglichen Memoiren
■ betr.: „Die Juden haben gefälligst gut zu sein“, taz vom 26. 3. 96
Lieber Rafael Seligmann, ich fand Ihre Buchbesprechung in der taz sehr interessant und werde Michael Bodemanns Buch gespannt lesen, möchte aber doch eine kleine Lanze für Victor Klemperer brechen, der weder zu meinen Idolen gehört, noch habe ich seine Tagebücher mit Nostalgie gelesen. Das hieße ja, diese Zeiten zurückzuwünschen – beileibe nicht. So ganz ist mir Ihre Einstellung zu seiner Person beziehungsweise den Tagebüchern nicht klar, bin aber neugierig geworden.
War Klemperer ein „ordentliches deutsches jüdisches Opfer“, weil er in letzter Konsequenz Patriot und Anti-Zionist war? Aus diesen Gründen ist er jedenfalls nicht aus Deutschland weggegangen, was er dann ja oft bereuen sollte. Spielt da die „arische“ Ehefrau nicht auch eine Rolle?
Mag sein, daß Klemperers Übertritt zum Christentum Opportunismus war. Genützt hat es ihm jedenfalls nichts. Und ob sie nun zum Christentum übertraten oder nicht, viele deutsche Juden fühlten sich dem Judentum entfremdet oder ließen es einfach links liegen. Viele berichten von einer Wieder- oder gar Neuentdeckung der jüdischen Religion und Kultur nach Machtübernahme der Nazis. Ob die alle auch „kerndeutsch“ waren oder blieben, sei dahingestellt – Klemperer war es, da haben Sie recht. Aber was soll es uns sagen?
War Klemperer „kerndeutsch“, weil er im Krieg-Dresden auf den Straßen keinen Antisemiten fand? Das stimmt schon mal nicht, denn Klemperer bringt in etwa gleich viele Beispiele für Begegnungen mit freundlichen wie mit antisemitischen Dresdnern, schildert detailliert Schikanen, denen er ausgesetzt war, und eher mit Verwunderung die kleinen verstohlenen Händedrücke, die er von Wildfremden erfährt, er traut ihnen nicht in letzter Konsequenz, aber daß sie einem Menschen in seiner Situation auch etwas bedeuten – wer mag ihm das übelnehmen?
Ich kann nicht finden, daß Klemperer nur als Idol stilisiert wird (das sagen Sie ja eigentlich auch nicht, und Walser kann ich auch nur schwer ertragen), dazu geht er einem viel zu sehr auf die Nerven, die 1.500 Seiten durch. Aber er hat eine Menge zu sagen, und ich meine, man sollte es lesen. Das Interessante ist doch, daß es keine nachträglichen Memoiren sind.
[...] Als Historikerin, die sich mit Deutschland und Amerika zwischen 1933 und 1945 beschäftigt, bin ich mehr als dankbar für die überfällige und erfolgreiche Veröffentlichung der Aufzeichnungen. Ob man Klemperer als Beispiel für patriotische oder gar nationalistische deutsche Juden heranziehen kann, weiß ich nicht. Annette Jander, Ammerbuch
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen