: Wechseljahre des Polit-Rap
■ Ortsbestimmung mit R.A.F., No Remorze und Cartel
Ist die Luft raus oder der Sack zu? Wie vor etwa drei Jahren standen die Reinbeker Anti-Faschisten, zusammengezogen R.A.F., auf der Bühne der Markthalle und mühten sich, Vibes und Props zu verteilen. Im Rahmen der „Anti-Faschismus-Tour“ bestritten sie mit das Vorprogramm für Cartel. Nur hallte ihr Appell „Rettet den Regenwald“ plötzlich so verlassen durch die Halle. Die Rapper von No Remorze legten ebenfalls einen gutgemeinten Auftritt hin, und niemand kann mit Recht behaupten, sie hätten sich keine Mühe gegeben. Aber aus irgendeinem Grund traten all die jungen Engagierten plötzlich auf, als wäre „Die grüne Raupe“ wiederbelebt worden, das Unternehmen der Grünen, „Rock und Politik“ miteinander zu verbinden.
Als ob im großen, im ganzen und im kleinen alles klar sei, verharrten die Zuschauer vor den etwas fassungslosen Akteuren. Die Botschaften sind ausgegeben, die Kämpfe sind gewonnen oder verloren, aber auf jeden Fall beendet worden. Das neue Zeitalter, das nach ihnen kommen sollte, hat angesetzt. So war die Stimmung. Anders gesagt: Vor drei Jahren standen die Inhalte noch nicht so zur Disposition. Damals war Unangefochtenheit leichter zu erreichen.
Es muß an dieser Stimmung gelegen haben, daß einige ein paar Male mehr, als sie es sonst für nötig gehalten hätten, sich darauf verlegten, von „Rappern mit Eiern in der Hose“ zu sprechen. Die Ankündigung, „für die Ladies im Publikum etwas über Sex zu bringen“, bezeichnete fortschreitende Hilflosigkeit.
Wegen „technischer Probleme“ (Ankündigung des Conferenciers) entfiel der Auftritt von Advanced Chemistry. Daführ retteten Cartel die ganze Veranstaltung. Ohne Angebereien, ohne Phrasen und mit einer Wortgewalt, die auch des Türkischen nicht Mächtige erreichte, lockerten sich acht Leute vor freundlichen Fans. Zu Cartel gehen auch Achtjährige, die wissen, wovon die Gruppe singt, und denen klar ist, daß das sonst niemand tut.
Dazu bedarf es keiner zum Mundoffenstehenlassen animierenden Radikalität, sondern schlicht der Entscheidung, etwas zu tun, was angemessen ist: ohne Identitätshuberei recht wahrhaftige Texte singen und erleben, wie diejenigen, die zuhören können, nun auch zuhören wollen. Die Radikaldemokraten von Cartel verbreiten den Gedanken, daß Zivilcourage und Verständnis für jene, denen Zivilcourage suspekt erscheint, zur selben Zeit im Haus sein können. Von der Sorte müßte es noch ein, zwei, viele geben.
Kristof Schreuf
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen