: Lehren aus dem Völkermord in Ruanda
Die Massaker an der Tutsi-Minderheit hätten sich verhindern lassen. Doch die internationalen Organisationen haben auf ganzer Linie versagt. Das belegt eine neue Studie verschiedener Regierungen und Hilfswerke ■ Aus Nairobi Bettina Gaus
Der Völkermord in Ruanda war keine unvermeidliche Tragödie. „Schlüsselfiguren in der internationalen Gemeinschaft tragen sicherlich eine Mitschuld an der Tatsache, daß der Genozid beginnen konnte.“ Zu diesem Ergebnis kommen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer unabhängigen Studie mit dem Titel „Internationale Antwort auf Konflikt und Völkermord: Lektionen aus der Erfahrung mit Ruanda“. An der Untersuchung haben sich unter dänischer Federführung 37 Länder sowie mehrere internationale Hilfswerke beteiligt. Auch UNO- Organisationen haben die Untersuchung finanziell unterstützt – was nichts daran ändert, daß in dem Bericht den Vereinten Nationen schwere Versäumnisse zur Last gelegt werden.
52 Expertinnen und Experten befassen sich in dem jetzt veröffentlichten fünfbändigen Werk ausführlich mit den Ursachen und Vorbereitungen für den Genozid in Ruanda, mit den Möglichkeiten für einen Wiederaufbau des Landes und mit der Frage, warum die internationale Gemeinschaft im Zusammenhang mit dem Völkermord an der Tutsi-Minderheit des Landes so kläglich versagt hat.
Das Zeugnis, das internationalen Entscheidungsträgern in der Untersuchung ausgestellt wird, ist vernichtend. 2,5 Milliarden Dollar hat die internationale Staatengemeinschaft für Ruanda und für ruandische Flüchtlinge in Nachbarländern ausgegeben, seit am 6. April 1994 die Ermordung von Präsident Habyarimana das Startsignal für den von langer Hand vorbereiteten Genozid geliefert hatte. Der Löwenanteil des Geldes floß in die humanitäre Hilfe – aber, so die Autoren der Studie, „humanitäre Taten können kein Ersatz für politisches Handeln sein“.
Genau das aber sei im Falle Ruandas geschehen: „Es ist offenkundig, daß ein großer Teil der humanitären Operation, die erforderlich wurde, unnötig gewesen wäre, wenn frühzeitig angemessene politische Entscheidungen getroffen worden wären.“
Die ersten folgenschweren Fehler liegen der Untersuchung zufolge bereits Jahre zurück. 1990 brach der Bürgerkrieg aus, mit dem die von Tutsi dominierte Rebellenbewegung RPF (Patriotische Front Ruandas) die von der Regierung verweigerte Heimkehr Hunderttausender von Exilierten erzwingen wollte. Der Krieg, aber auch der Sturz der Weltmarktpreise für das wichtigste Exportprodukt Kaffee führte zu einem dramatischen wirtschaftlichen Niedergang.
Jahre vorher wurden Warnsignale übersehen
Zwischen 1989 und 1993 fiel das Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung um 40 Prozent, eine Entwicklung, von der vor allem die große Bevölkerungsmehrheit der Kleinbauern betroffen war. „Die internationale Gemeinschaft, einschließlich der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds, übersah diese potentiell explosiven sozialen und politischen Konsequenzen, als sie die Rahmenbedingungen für die Unterstützung der wirtschaftlichen Gesundung Ruandas entwarf und erzwang.“
Nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im politischen und militärischen Bereich wurden Warnsignale übersehen. Seit 1990 hatten sich Gewalttaten gegen ruandische Tutsi gehäuft. In zwei Studien, verfaßt von einer unabhängigen und einer UNO-Menschenrechtskommission, wurden die Morde schon bald als „ihrem Charakter nach genozidal“ bezeichnet und wurde auf die Beteiligung der ruandischen Autoritäten an den Menschenrechtsverletzungen hingewiesen.
Im Herbst 1993 unterzeichneten die Bürgerkriegsparteien im tansanischen Arusha ein Friedensabkommen, das eine Teilung der Macht vorsah, von vielen Angehörigen der Hutu-Bevölkerungsmehrheit jedoch als Bedrohung empfunden wurde. In weiteren UNO-Berichten war nun von der Bewaffnung extremistischer Hutu, von Todesschwadronen und Todeslisten die Rede – die Möglichkeit eines Völkermords zeichnete sich ab. Aber, so die Autoren der jetzt veröffentlichten Studie, „die UNO-Kommission für Menschenrechte hat kaum Notiz von ihrem eigenen Bericht genommen“. Die alarmierenden Informationen wurden „meistens in nationalen Ministerien und im System der UNO zu den Akten gelegt“.
Außer Kanada knüpfte kein Staat die Beachtung der Menschenrechte als Bedingung an Hilfsleistungen für Ruanda. Regierungen anderer Länder vertraten die Ansicht, daß der Friedensprozeß und die Demokratisierung unterstützt werden müßten. „Auf diese Weise wurden Geberstaaten zu Geiseln ihrer eigenen Politik“, heißt es in der Studie.
Das Ausland scheint vor der Entwicklung in Ruanda konsequent die Augen verschlossen zu haben. In den Monaten unmittelbar vor dem Völkermord mehrten sich die Anzeichen für ein Scheitern des Friedensprozesses. Die UNO-Truppen (Unamir), die die Einhaltung des Abkommens von Arusha überwachen sollten, waren aus Kostengründen unzureichend ausgestattet. Ihre Stationierung vollzog sich schleppend. „Die Operation war trotz der gefährlich unstabilen Lage minimalistisch und konnte nicht flexibel auf eine Veränderung der Umstände reagieren.“
Trotz der begrenzten Möglichkeiten gelang es Unamir, Geheimdienstberichte nach New York zu schicken, in denen die militärische Ausbildung von Milizen, geheime Waffenverstecke und Pläne für Gewaltaktionen geschildert wurden. Ausdrücklich war darin von der Möglichkeit eines Putsches und der Vorbereitung eines Genozids die Rede. Trotzdem entwickelten weder die Vereinten Nationen noch einzelne ihrer Mitgliedsstaaten Pläne für den Notfall. Die Glaubwürdigkeit der Informationen wurde bezweifelt. Mehrfach hat das UNO-Sekretariat dem UNO-Truppenkommandeur verboten, nach versteckten Waffen zu suchen und diese zu beschlagnahmen.
Die Studie kommt zu dem Ergebnis, daß bei richtiger Analyse der Berichte internationale Politiker mit der Möglichkeit eines Völkermords hätten rechnen müssen. „Aber diese Analyse wurde nicht geleistet. Das Ausmaß des Völkermords hat buchstäblich alle überrascht.“
Bei Ausbruch der Krise hat „die UNO kollektiv versagt“. Im UNO- Hauptquartier war die Führungsriege abwesend. Der Generalsekretär, so die Autoren der Unterschung, mißverstand die Natur des Konflikts. Die Abteilung für friedenssichernde Operationen „schien gelähmt“. Gegen den Rat des Truppenkommandeurs von Unamir und einiger afrikanischer Länder, die Kontingente stellten, beschloß der Weltsicherheitsrat zwei Wochen nach Beginn der Massaker, fast alle UN-Soldaten aus Ruanda abzuziehen – nur eine Woche später erklärte der UNO- Generalsekretär, nun sei „kraftvolles Handeln gefragt“.
Die Massaker in Ruanda hätten sich, mindestens in ihrem Ausmaß, wahrscheinlich verhindern lassen. In der Studie werden sehr konkrete Vorwürfe erhoben, die in sich Verbesserungsvorschläge für die Zukunft enthalten: Die UNO hatte vor Ort kein formales Recht, geheimdienstliche Informationen zu sammeln, so daß Kommandeure, die es dennoch taten, irregulär handelten.
Humanitäre Hilfe statt politischer Konzepte
UNO-Menschenrechtsbeobachter waren nicht Teil des Informationsnetzes im Generalsekretariat und wurden infolgedessen an Entscheidungsprozessen nicht beteiligt. Außerdem führte ein schlechtes Datenverarbeitungssystem bei der UNO dazu, daß Informationen verschiedener Stellen nicht koordiniert wurden.
„Einige individuell und kollektiv Handelnde gaben ihr Bestes mit wenig Mitteln unter schwierigen oder widrigen Umständen.“ Etliche nichtstaatliche Hilfsorganisationen, die Regierung von Tansania, die wenigen im Lande verbliebenen Unamir-Soldaten und das Internationale Rote Kreuz werden für ihren Einsatz in der Untersuchung ausdrücklich gepriesen – „aber sie konnten das Scheitern der internationalen Gemeinschaft insgesamt nicht kompensieren“.
Auch später, als nach dem Sturz des ruandischen Regimes Hunderttausende vor allem nach Zaire flohen, hätten Hilfsorganisationen und auch das UNO-Flüchtlingswerk UNHCR gute Arbeit geleistet und sich sehr um Unterstützung der Notleidenden bemüht. An politischen Konzepten aber fehlte es auch weiterhin. „Die Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft, humanitäre Hilfsprogramme zu finanzieren, steht in klarem Gegensatz zum Fehlen gemeinsamer Anstrengungen, koordinierte politische Lösungen für die Krise zu entwickeln.“
Einige Fehler der Vergangenheit scheinen sich in der Gegenwart zu wiederholen. Vom Ausland versprochene Hilfe für den Wiederaufbau Ruandas erreicht die Empfänger nur langsam und bedroht die Bemühungen der neuen Regierung um Stabilität. Im September 1995, neun Monate nach einer Geberkonferenz, war nach Auskunft des UNO-Entwicklungsprogramms UNDP erst ein Drittel der zugesagten Mittel eingetroffen.
Während in einigen Bereichen wie Schul- und Gesundheitswesen ausländische Hilfswerke effiziente Arbeit leisten, liegen andere Felder brach: Für psychosoziale Heilung überlebender Erwachsener sei bislang wenig getan worden. Die UN-Menschenrechtsoperation nach dem Krieg habe wegen begrenzter Mittel, fehlender Strategie, bürokratischer Streitereien innerhalb der UNO und aus anderen Gründen versagt. Das UNO- Tribunal, das die Verantwortlichen des Völkermords aburteilen soll, habe mit logistischen, personellen und finanziellen Problemen zu kämpfen. Noch immer ist kein einziger Prozeß eröffnet worden. „Weitere Verzögerungen werden den Eindruck verstärken, daß die Welt dem Genozid in Ruanda gleichgültig gegenübersteht.“
Bittere Bilanz der Untersuchung: Nach wie vor kümmere sich die internationale Gemeinschaft insgesamt allzuwenig um die Folgen des Völkermords für einzelne und für die Gesellschaft, während gleichzeitig für die Flüchtlinge in Nachbarländern erhebliche Gelder zur Verfügung gestellt würden. Zwar sei es unabdingbar, diesen Notleidenden zu helfen, gleichzeitig aber müsse die Gefahr im Auge behalten werden, daß dadurch der Eindruck unzulässiger Parteinahme entstehen könne. „Das fehlende Verständnis für die psychologischen Folgen des Genozids hat zu Mißtrauen – und sogar offener Feindseligkeit – der ruandischen Regierung gegenüber der UN- Menschenrechtsoperation beigetragen.“
Die Studie bleibt nicht bei kritischer Würdigung der Vergangenheit stehen. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben präzise Vorschläge entwickelt, wie ein vergleichbares Desaster in der Zukunft verhindert werden kann: Es gelte unter anderem, das Frühwarnsystem zu verbessern, in der UNO-Generalversammlung Kriterien für einen Genozid-Notstand zu entwickeln, aus verschiedenen Organisationen ein Beraterteam eigens für den Generalsekretär zu bilden, UNO-Friedenstruppen mit einem klaren Mandat zum Schutz von Zivilisten zu versehen und für den Notfall flexibel einsetzbare Mittel zur Erhaltung von Schlüsselfunktionen bereitzustellen.
„Wenn die Weltgemeinschaft von Ruanda nichts lernen kann, dann kann sie überhaupt nichts lernen“, heißt es in der die Veröffentlichung der Studie begleitenden Presseerklärung. Lernfähigkeit aber sei dringend geboten – vor allem auch deshalb, weil Burundi jetzt einen ähnlichen Weg zu gehen drohe wie Ruanda vor zwei Jahren. Dort sei es jetzt noch Zeit, dem Schrecken Einhalt zu gebieten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen