: Die Kunst, gegen den Wind zu kreuzen
Reinhard Höppner regiert wie ein Wessi und ist trotzdem ein Ossi, heißt es über den Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt. Wie sein Buch aber zeigt, ist er in erster Linie Christ und ein ganz ungewöhnlicher Politiker. Dies meint ■ Iring Fetscher
Ernst Blochs Formulierung vom „aufrechten Gang“ fällt mir beim Lesen der Texte von Reinhard Höppner ein. Hier spricht ein Politiker, der seine Vergangenheit in der DDR nicht betrauert, sondern sich ihr stellt.
Der heutige Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt hat freilich auch Glück gehabt. Als hochbegabter Mathematiker, Stolz seiner Oberschule, wurde er nicht gezwungen, der FDJ beizutreten. Der Angehörige der Jungen Gemeinde und der früh zu kirchlichen Würden gekommene Laie genoß Privilegien, die sonst nur angepaßte Angehörige der Blockparteien erhielten. Wegen offener Kritik vom Fachstudium ausgeschlossen, konnte er als Redakteur für Mathematikbücher beim Akademie-Verlag relativ frei über die Publikation von Fachbüchern entscheiden und sich in einem Kreis Gleichgesinnter frei aussprechen. Im Rückblick bereut er nur, daß er nicht den ordentlichen Wehrdienst verweigert hat, was in der DDR immerhin möglich war. Die Dienstpflichtigen wurden zu Baubataillonen eingezogen.
„Segeln gegen den Wind“, das ist die Metapher, mit der Höppner sein Verhalten treffend charakterisiert. Die Windrichtung vermögen wir nicht zu bestimmen, aber wir können gegen die Windrichtung kreuzen, wenn wir die Segeltechnik beherrschen und wissen, wohin wir wollen. Mitläufer lassen sich treiben, Verzweifelte warten untätig auf einen Umschlag des Windes. Das Gegen-die-Windrichtung Kreuzen vermeidet diese bedrückende Alternative.
Die DDR war ein Lebensraum, in dem zu bleiben der Christ Höppner als Verpflichtung empfand. Zugleich versuchte er, so viel er konnte, diesen Lebensraum für sich und andere mitzugestalten, ohne sich der Führung auszuliefern. Einem Rekrutierungsversuch durch die Stasi entzieht er sich durch die Aussage, daß er diesen Versuch nicht für sich behalten könne.
Reinhard Höppner ist so alt wie die DDR – genauer gesagt: Er war gleich alt wie sie. Die schlimmen Anfangsjahre hat er nicht bewußt miterlebt. In einem idyllischen Pfarrhaus am Waldrand aufwachsend, erinnert er sich sogar an ein erfreuliches Erlebnis mit russischen Soldaten: Sie helfen dem Vater beim Aufrichten eines Kreuzes für einen Gottesdienst im Freien. Höppner konnte – fast – ohne Angst in der DDR leben. Er weiß aber, wie viele Menschen dort gelitten haben, und klagt die Kirche und sich selbst an, zum Beispiel nicht gegen die skandalösen Zustände in den Haftanstalten offen protestiert zu haben.
Während der letzten 20 Jahre der DDR war das Unterdrückungssystem äußerlich weniger sichtbar. 1968 wurde der Reformversuch in der Tschechoslowakei von Menschen wie Höppner mit Hoffnung beobachtet. Die Teilnahme der NVA an der Niederwerfung der reformkommunistischen Ordnung erfüllte ihn mit Scham. 1988 hat er sich – im Namen seiner Landsleute – bei tschechoslowakischen Christen dafür entschuldigt. Wichtiger als der in der Bundesrepublik vielfach kommentierte Besuch Honeckers in Bonn war der Olof-Palme-Friedensmarsch im Herbst 1987. Die DDR-Führung testete offenbar, wieviel Bewegungsfreiheit sie der kritischen Bevölkerung ohne Risiko lassen könnte. Höppner empfand den Marsch mit den bis dahin streng verbotenen Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“ als befreiendes Erlebnis. Die Regierung schrak vor der Massenteilnahme zurück. Demonstranten, die wenig später ein Transparent mit Rosa Luxemburgs Ausspruch „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“ mitführten, wurden verhaftet. 1987, meint Höppner, war das letzte Jahr, in dem die DDR sich durch Reformen hätte retten können.
Die oft kritisierte Formel „Kirche im Sozialismus“, die von der evangelischen Kirche der DDR angenommen wurde, interpretiert Höppner nicht als Übernahme der Ideologie, sondern als Standortbestimmung. Sie schuf sich dadurch Freiraum und konnte für einen „verbesserlichen Sozialismus“ gegen das „gnadenlose System“ der SED-Herrschaft eintreten. Die von der evangelischen Kirche propagierte Gewaltfreiheit hält er für für den entscheidenden Beitrag zum friedlichen Untergang der DDR. Für Höppner ist das Erinnern die Voraussetzung zur Versöhnung. „Wer sich nicht erinnern kann, wird geschichtslos, verliert seine Wurzeln ... Er kann nicht mehr wachsen, ist in dürren Zeiten zum Vertrocknen verurteilt, verliert seine gestalterischen Fähigkeiten.“ Nach dem Ende der DDR bestand für viele – ähnlich wie 1945 nach dem Ende der Naziherrschaft – die „Versuchung, durch Vergessen und Verdrängen die Belastungen der Vergangenheit abzustreifen wie ein altes Kleid, um sich den neuen Aufgaben zu stellen, sich im neuen Gewand zu präsentieren, der Mode angepaßt“.
Als ein ostdeutscher Politiker – wohl zum Lobe – 1991 über ihn schrieb: „Er sieht aus wie ein Wessi, redet wie ein Wessi, er regiert wie ein Wessi – und ist trotzdem ein Ossi“, erschrak Höppner. „Wer ... seine eigenen Erfahrungen vergißt, ist verurteilt, die Erfahrungen anderer zu übernehmen. Die Möglichkeit, sein Leben selbst zu gestalten, wird ersetzt durch Anpassung an die herrschenden Verhältnisse.“
Dieser Versuchung waren die Menschen 40 Jahre lang in der DDR ausgesetzt, der Gefahr sollten sie nicht ein zweites Mal erliegen. Aus dem Vertrauen darauf, daß Menschen sich ändern können, sollte die Bereitschaft zum Verzeihen entstehen. „Wer vor allem mit der Suche nach dem Schuldigen beschäftigt ist, verbaut den Weg zur Versöhnung. Wo Versöhnung praktiziert werden soll, müssen gerade diejenigen, die sich im Recht fühlen, die unter Fehlverhalten des Sünders gelitten haben, Entgegenkommen zeigen“, schreibt er. Niemand wird verlangen, daß Verbrecher straflos ausgehen, aber die politischen Verbrechen, die das Herrschaftssystem als solches begangen hat, sind kaum justitiabel.
Hier hofft Höppner auf eine Anleihe aus der reformierten Strafrechtstheorie: „Der Rechtsstaat hat ... einen Versuch unternommen, dieses Element der Versöhnung in eine Rechtspraxis aufzunehmen, der den Täter-Opfer- Ausgleich versucht, ... unter der Moderation eines Gerichtes. Dies ist ... ein Anfang, der wegführt von dem Prinzip der Strafe oder gar der Rache, hin zu Versöhnung. Wir sollten darüber nachdenken, wie ein solches Prinzip bei dem rechtsstaatlichen Umgang mit Fehlverhalten aus der DDR-Vergangenheit aussehen könnte.“
Die Versuchung ist groß, noch mehr aus diesem gehaltvollen kleinen Buch eines ganz ungewöhnlichen Politikers und eines ganz und gar untypischen „Ossis“ zu zitieren. Hier kommt einer zu Wort, dem es nicht um Publizität und Imagepflege geht, sondern um nachdenkliche Hilfe bei der Bewältigung realer Probleme. Vor allem aber einer, der nicht in die langweilige Klage der vielen einstimmt, die den „40 verlorenen Jahren“ nur nachtrauern. Dies gibt ihm die notwendige Gelassenheit.
Reinhard Höppner: „Segeln gegen den Wind. Texte und Reden. Und ein Gespräch mit Günter Gaus“. Radius-Verlag, Stuttgart 1996, 139 Seiten, 34 DM
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