: Waterloo wird verschenkt
Noch zuckelt der Eurostar-Zug auf Gleisen der Vorortbahn von London bis zum Kanaltunnel – aber nicht mehr lange. Der Streckenbau kostet 13 Milliarden Mark Staatszuschüsse ■ Von Ralf Sotscheck
Ganz London war stolz auf ihn: Der neue Waterloo-Bahnhof in London war planmäßig im Mai 1993 fertig geworden und hatte den Kostenvoranschlag nicht überschritten. Einziges Manko bei der feierlichen Eröffnung: Die Züge fehlten, denn der Bau des Tunnels unter dem Ärmelkanal hatte sich immer wieder verzögert.
Mittlerweile fährt der Eurostar täglich mehrmals von Waterloo ab und zuckelt die hundert Kilometer auf den Gleisen der Vorortbahn zur Küste, wo er dann rasant beschleunigt und zwei Stunden später in Paris ankommt. Jetzt soll der Bahnhof Waterloo verschenkt werden, und zwar an ein Konsortium, das die Bummelstrecke endlich ausbauen soll. Die Briten haben es stets als Demütigung empfunden, daß die Strecke vom Tunnelausgang bis in die französische Hauptstadt längst in Betrieb war, während man sich in Großbritannien noch nicht mal auf die Streckenführung geeinigt hatte. Mal hätten die Erschütterungen die Plattenaufnahmen der Londoner Philharmoniker verhunzt, weil die Gleise direkt am Studio vorbeiführen sollten, mal war die Sache zu teuer, weil ein Teil der Strecke unterirdisch verlaufen sollte. Insgesamt gab es 1.043 Einsprüche gegen die verschiedenen Streckenpläne, der Unterhausausschuß tagte insgesamt 320 Stunden.
Das Geld, soviel stand fest, sollte nicht vom Steuerzahler kommen, sondern von der Privatwirtschaft. Mittlerweile hat ein Konsortium den Zuschlag für den Bau erhalten. Es besteht aus der Investmentbank SG Warburg, der Baufirma Ove Arup und dem Virgin- Flieger Richard Branson. Im Jahr 2003 soll die Strecke fertig sein, die Reisenden werden dann eine halbe Stunde früher in Paris oder Brüssel ankommen.
Um dem Konsortium die Sache schmackhaft zu machen, hat die Regierung freilich eine Wende vollzogen: Sie bezuschußt den Bau mit umgerechnet mehr als 13 Milliarden Mark – gut drei Milliarden in bar, dazu 50 Hektar bestes Bauland im Herzen der englischen Hauptstadt, weitere 50 Hektar in Ostlondon und 635 Grundstücke entlang der Strecke. Außerdem die Eurostar-Züge im Wert von anderthalb Milliarden – schuldenfrei dank Steuergeldern. Als Zugabe legt die Regierung die beiden Londoner Bahnhöfe Waterloo und St. Pancras sowie das benachbarte 250-Betten-Hotel St. Pancras Chambers drauf, das soeben für 25 Millionen Mark öffentlicher Gelder renoviert worden ist. Das Konsortium muß bis zum Jahr 2000 lediglich viereinhalb Milliarden Mark auftreiben.
Die Labour Party sprach von der größten Verschenkaktion in der Geschichte der Eisenbahn. Die Bahngesellschaft British Rail, die jetzt scheibchenweise privatisiert wird, hätte die Strecke von London zum Kanaltunnel vor sieben Jahren für ein Drittel dieser Steuergelder bauen können, sagte Clare Short vom Labour-Schattenkabinett. Und die Verbindung wäre längst fertig. Doch der damalige Tory-Transportminister Cecil Parkinson hatte betont, daß es illegal wäre, wenn die Regierung Geld in das Projekt steckte. Die Bahnlinie müsse allein mit privaten Geldern gebaut werden, erklärte er damals.
Derselbe Parkinson ist heute Vorsitzender eines Konsortiums, das sich ebenfalls um die gewaltigen staatlichen Zuschüsse und den Zuschlag für den Bau der Tunnelverbindung beworben hatte – allerdings vergeblich, obwohl es das I-Tüpfelchen auf der Kette von Peinlichkeiten im Zusammenhang mit dem Tunnel gewesen wäre.
Das Jahrhundertprojekt von Margaret Thatcher und François Mitterand steckt so tief in den roten Zahlen, daß verschiedene Gläubigerbanken die Kredite in ihren Bilanzen abgeschrieben haben, wie bereits durchgesickert ist. Das kommt einem Mißtrauensvotum in das gesamte Projekt gleich.
Das ausgewählte Konsortium wies ebenfalls darauf hin, daß man sich mit dem Geschenkpaket ja auch den Betrieb des Eurostar eingehandelt habe, und der werde auf Jahre hinaus kein Geld einfahren. Ein Mitglied des Konsortiums behauptete gar, der preisgekrönte Bahnhof Waterloo stelle überhaupt keinen Vermögenswert dar. Das klang im Mai 1993 noch ganz anders.
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