: Jetzt wird's ernst im Freizeitpark Deutschland: 80 Milliarden Mark müssen eingespart werden, davon 50 Milliarden in den öffentlichen Haushalten. Politiker stehen am großen Sozial-Riesenrad und streiten noch über den richtigen Dreh. Der soll morgen in Bonn vorgestellt werden, wenn sich der Kanzler erneut mit Gewerkschaftern und Arbeitgebervertretern trifft. Es geht um Nullrunden, Renten, Arbeitslosenhilfe und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Von Barbara Dribbusch und Karin Flothmann
Der Milliarden-Dreh
Moderator: Meine Damen und Herren, wir laden zu einer ganz besonderen Schau im Freizeitpark Deutschland. Politiker drehen am großen Sozial-Riesenrad! Wer mitfährt, muß zahlen. Rentnerinnen, Arbeitslose, Kranke und Kinder sitzen schon in den Gondeln. Es geht um 30 Milliarden in den Sozialkassen, 50 Milliarden brauchen die Staatskassen.
Zwischenruf des SPD-Haushaltsexperten Karl Diller: 50 Milliarden ist schwer untertrieben. 80 Milliarden, 80 Milliarden!
Moderator: 50 Milliarden, 60, 80 Milliarden! Kann sich doch sowieso keiner mehr vorstellen. Mehrere hundert Tonnen Papiergeld! Wer's genau wissen will: 80 Milliarden sind umgerechnet 1.000 Mark pro Einwohner.
Helmut Kohl: Deswegen darf es auch keine Tabus geben, Theo.
Theo Waigel: Nur bei den Erbschaften und Vermögen müssen wir vorsichtig sein. Laut Bundesverfassungsgericht darf der ganz überwiegende Teil des Vermögens nicht angetastet werden. Sonst will doch keiner mehr arbeiten! Da fangen wir besser bei den Renten an...
Norbert Blüm: Die Renten sind sicher!
Kohl: Für die jetzige Rentnergeneration.
Blüm: Man könnte ein bißchen bei den Renten für Langzeitstudenten kürzen. Und bei den Frauen...
Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth: Erst mit 63 Jahren auf Rente! Das geht nicht! Das sind doch auch Mütter, die ihr ganzes Leben lang geackert haben.
Kurt Biedenkopf (CDU): Also einfach nur später auf Rente, das bringt doch nichts. Die Alten im Betrieb verstopfen doch nur den Arbeitsmarkt.
Heinrich Kolb, Staatssekretär (FDP): Da geht man halt ein bißchen ran an den Kündigungsschutz. Reicht doch, wenn der Schutz erst für Angestellte in mittleren Betrieben gilt.
Blüm: Und wo sollen die Alten dann hin? Arbeitslosengeld? Erwerbsunfähigkeitsrente? Bei uns machen viel zu viele auf erwerbsunfähig mit kaputtem Rücken und so. Das müssen wir sowieso jetzt mal erschweren. Da müssen schärfere Gutachter her. Außerdem können die Älteren sich doch immer noch einen Schon-Job suchen, auf Teilzeit gehen. Eine kleine Kur, und der Rücken...
Horst Seehofer: Nee, nee, Herr Kollege. Nicht noch mehr Kuren. Das ist doch nur Urlaub mit medizinischer Anwendung! Kuren, Brillen, Pillen, Zahnkronen: da könnten die Leute schon ein bißchem mehr selber zahlen.
Julius Louven, sozialpolitischer Sprecher (CDU/CSU): Ich bin ja froh, daß wir auf das Thema Gesundheit kommen. 60 Milliarden geben die Unternehmer jährlich aus, nur für die Lohnfortzahlung. Und wir haben den höchsten Krankenstand. Da müssen wir pädagogisch ran, und das spart auch Geld. 20 Prozent weniger Lohn in den ersten zwei Krankheitswochen, das wäre doch immer noch komfortabel...
Blüm: Aber die Wähler, die Gewerkschaften...
Waigel: Es darf keine Tabus geben!
Wolfgang Schäuble, Fraktionsvorsitzender (CDU/CSU): Stimmt ja, stimmt ja. Da läßt es sich noch am besten kürzen, wenn man geplante Verbesserungen erst gar nicht in Kraft treten läßt. Es ist doch eher zumutbar, daß eine Erhöhung später in Kraft tritt, als bereits bestehende Leistungen zu mindern.
Familienministerin Claudia Nolte (CDU): Aber nicht beim Kindergeld kürzen! Das ist ganz die falsche Botschaft.
Schäuble: Sachte, sachte. Ob wir das Kindergeld zum nächsten Januar erhöhen oder nicht, das entscheidet doch wohl nicht, ob der Sozialstaat zum Auslaufmodell wird oder nicht.
Michael Glos, CSU-Landesgruppenchef: Bei Kindern kürzen, das ist wirklich heikel. Das bringen wir nur rüber, wenn auch die Beamten kürzertreten. Ein, zwei Nullrunden für die Beamten, das kriegen wir hin. Und bei den Arbeitern und Angestellten im öffentlichen Dienst, da muß eben die ÖTV auch mitziehen. Da müssen wir moralischen Druck ausüben.
Blüm: Rentnerinnen, Kinder, Kranke, Nullrunde, da stehen wir ganz schön beschissen da. Wo ich doch den Sozialstaat immer retten wollte. Und wenn die Sozis jetzt auch noch die neuen Gesetze zur Arbeitslosen- und Sozialhilfe blockieren und da Punkte machen wollen?!
Mehrere CDU/CSU-Wirtschaftsexperten: Sozialhilfeempfänger! Arbeitslose, Langzeitarbeitslose wohl noch! Da haben wir die Öffentlichkeit doch schon lange im Sack. Da stehen die Sozis doch nur als Dauernörgler da. Es kümmert doch kein Schwein, ob wir da ein paar Prozentchen kürzen. Die sollen arbeiten gehen! Wo's doch demnächst ein paar neue Jobs als Dienstmädchen gibt, wenn wir die entsprechenden Steuervorteile für Privathaushalte erhöhen! Und erst die Asylbewerber! Das finden doch alle längst korrekt, daß die die normale Sozialhilfe nicht mehr kriegen.
Kohl: Besser jetzt ein paar Grausamkeiten. Dann ist alles vorbei, wenn 1998 gewählt wird.
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