: Tropfen auf den heißen Stein
■ Seit vier Jahren sorgt die Initiative "Hilfe für krebskranke Tschernobyl-Kinder" in Wandlitz für Rehabilitation und Erholung der jüngsten Opfer des Atomunfalls
Costa trägt seine knallrote Baseballmütze verkehrt herum und grinst schelmisch in die Runde. Dann bewegt er sich auf seinen Krücken zum Taxi. Costa hat nicht nur Knochenmarkkrebs, sondern auch Metastasen in der Lunge. Vor der anstehenden Operation soll er nun nochmals untersucht werden. Die anderen acht Kinder haben schon die Koffer gepackt. Für sie und ihre Mütter geht es heute nacht nach Hause – nach Weißrußland. Etwa 30 Stunden Busfahrt stehen ihnen bevor. Mehrere Wochen und manchmal auch Monate haben sie in der Brandenburgklinik bei Wandlitz zugebracht, um sich dort unter ärztlicher Betreung von schweren Krebsoperationen zu erholen. Die sechsjährige Anja schleckt an einem Erdbeereis. Anja, der 1995 ein Hirntumor entfernt wurde, hat sich zur Freude der begleitenden Mutter in der Brandenburgklinik zusehends erholt: Sie sei „energischer und lustiger“ geworden.
Das Rehabilitationsprogramm für „Tschernobyl-Kinder“ sei einzigartig in der Bundesrepublik, so der zuständige Arzt Ulrich Rößler. Die Wandlitzer Initiative „Hilfe für krebskranke Tschernobyl-Kinder“ entstand im Herbst 1992. Bisher wurden 131 Kinder betreut. Die Finanzierung übernahm zunächst die Unternehmergruppe Michels, die die 1989 erbaute Kurklinik betreibt. Bis zum Frühjahr 1993 steckte sie laut Rößler rund 500.000 Mark in das Projekt. Dann blieb die Finanzierung der Spendenfreudigkeit von Privatleuten überlassen. Anneliese Bödecker vom Berliner Koordinationsbüro der Initiative nennt die momentane finanzielle Situation „prekär“. Rößler sieht die Lage gelassener. Zwar wisse man noch nicht, wie die Betreuung der Kinder in den nächsten Monaten gesichert werden solle. Aber im letzten Jahr um diese Zeit sei die Situation nicht besser gewesen. 600.000 Mark jährlich werden gebraucht, um regelmäßig sechs Kinder in Behandlung zu nehmen.
Der 18jährige Andrey kommt auf seiner Prothese schon wieder wacker daher. Er wurde mit einer falschen Diagnose nach Deutschland geschickt. Beim erneuten Diagnoseverfahren in der Brandenburgklinik fand sich ein Tumor im linken Fuß; man konnte nur noch amputieren. „Die Ärzte im Minsker Krankenhaus für krebskanke Kinder müssen einfach besser kooperieren“, findet Rößler. Sie verließen sich zu sehr darauf, daß „die Deutschen es schon machen werden“, und nutzten ihre sicherlich begrenzten diagnostischen Möglichkeiten gar nicht vollständig aus. Auch die Arztbriefe seien häufig ungenau und schlampig. Bei einer Konferenz mit den Ärzten aus Minsk in der letzten Woche habe man diese sehr deutlich aufgefordert, fortan verantwortungsbewußter zu arbeiten. Die deutschen Ärzte müßten darauf vertrauen, daß die Minsker KollegInnen wirklich die Patienten nach Deutschland schickten, die es am nötigsten haben.
Viktor sitzt blaß und ernst an einem Tisch im Aufenthaltsraum. Der Sechzehnjährige ist seit September in der Brandenburgklinik und hat schon viele Mitpatienten wieder abfahren sehen. Nun kann er kaum glauben, daß er diesmal auch in dem Bus gen Osten sitzen wird. Er ist in Gomel aufgewachsen, wo zwei Drittel des radioaktiven Niederschlags von Tschernobyl abregneten. Im Minsker Tumorzentrum wurde Viktor ein Tumor aus dem Knie entfernt und ein künstliches Kniegelenk eingesetzt. Er kann sich nach wie vor nur mühsam auf Krücken bewegen.
Bislang sei nur beim Schilddrüsenkrebs eindeutig ein Zusammenhang zwischen der radioaktiven Verstrahlung in den Krisenregionen um Tschernobyl und dem Ansteigen der Krebsrate bewiesen, erklärt Rößler. Enorm viele Kinder seien in der Region an Krebs erkrankt. Seine Arbeit könne nur ein „Tropfen auf den heißen Stein“ sein. Stephanie v. Oppen
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