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Der Eintritt in die Geschichte

In Paris erscheint der zweite Teil von François Mitterrands Memoiren – es geht um Vichy und den Beitrag des Präsidenten zur deutschen Wiedervereinigung  ■ Dorothea Hahn

Der Mann ist im Ersten Weltkrieg geboren, hat im Zweiten gekämpft. War nacheinander Gefangener, Flüchtling, Kollaborateur, Widerstandskämpfer und Minister mehrerer Nachkriegsregierungen, bevor er für Jahrzehnte in der Opposition verschwand. Er arbeitete als Jurist, verfaßte ein gutes Dutzend Bücher, leitete die Sozialistische Partei und wurde nach zahlreichen Anläufen 1981 Präsident seines Landes, was er länger blieb, als irgend jemand vor ihm.

François Mitterrands Vita umfaßt alle Kapitel der französischen Geschichte dieses Jahrhunderts. Er hat alle Höhen und Tiefen seiner Generation und die wechselvollen Beziehungen über die Landesgrenzen hinweg – besonders die nach Deutschland – miterlebt und – gestaltet. Er hat Zeit seines Erwachsenenlebens gegen General de Gaulle opponiert. Er kannte die Mächtigen der Welt aus nächster Nähe. Er war einer der Vorkämpfer der westeuropäischen Einigung. Und er konnte schreiben.

Direkt nach dem Ende seiner 14 Jahre im Elysee-Palast hatte sich der schwerkranke Mitterrand im vergangenen Mai an die Erinnerungsarbeit gemacht. Sechs Monate blieben ihm für die Gespräche mit dem 40 Jahre jüngeren Journalisten Georges-Marc Benamou.

Dessen wohlgesonnene Fragen bilden das Skelett für den Band „Mémoires interrompus“ (Unterbrochene Memoiren), das die beiden Themen Vichy und die Konkurrenz mit de Gaulle behandelt. Den anderen Memoirenband schrieb Mitterrand selbst. Noch wenige Tage vor seinem Tod am 8. Januar diesen Jahres hat er daran gesessen. Unter dem Titel „De l'Allemagne, de la France“, rekonstruiert der einstige Präsident darin seinen Beitrag zur deutsch-deutschen Vereinigung.

Die Monate, die Mitterrand 1942 im Dienst des Regimes von Marschall Pétain verbrachte, rücken in den „Mémoires interrompus“ – wie schon während seiner auslaufenden Amtszeit im Elysee- Palast, als sich die öffentliche Diskussion immer mehr auf die rechtsextreme Jugend des sozialistischen Präsidenten konzentrierte – in den Vordergrund seiner Vita. Nach 18 Monaten im Stalag war dem jungen Mitterrand die Flucht aus Deutschland gelungen. Zurück in Frankreich, arbeitete er für den Marschall, der die Kapitulation unterzeichnet hatte und im freien Teil Frankreichs die „nationale Revolution“ vollzog, deren Werte „Arbeit, Vaterland, Familie“ hießen.

Von dem unter Pétain eingeführten „Judenstatut“ will Mitterrand nichts gewußt haben. Die Judensterne seien erst nach seinem Übertritt in die Résistance eingeführt worden. Er bestreitet auch, daß er selbst in Vichy einen „judenfreien“ Familienstammbaum vorlegen mußte. „Ich war kein Beamter, ich hatte einen Vertrag“, schreibt er. „Ich mußte keinen Eid ablegen, wie so viele andere, die später Karriere im reinen und harten Gaullismus gemacht haben.“

Der von Pétain mit dem hochrangigen „Francisque-Orden“ ausgezeichnete Mitterrand will in Vichy lediglich „subalterne Positionen“ besetzt haben. Zugleich macht er in seinen Memoiren keinen Hehl daraus, daß er „wie fast alle“ damals geglaubt habe, Marschall Pétain würde Frankreich schützen. „Das war ein Irrtum“, gibt der Memoirenautor zu und erklärt, daß ihm das ideologische Rüstzeug gefehlt habe, um die Lage richtig einzuschätzen.

„Irrtümer“ gesteht der späte Mitterrand auch für andere Kapitel seines Lebens ein. So sei seine Feststellung von 1954: „Algerien ist Frankreich“ zwar formal korrekt, doch politisch falsch gewesen. Einer Revision unterzieht er auch seine Einschätzung von de Gaulle. Plötzlich ist von „Bewunderung für den Charakter, den Mut und die Intelligenz des Chefs des freien Frankreichs“ die Rede – als würde das Lob des Gegenspielers seinen eigenen Eintritt in die Geschichte befördern.

Die „Mémoires interrompus“ enden nach nur 146 Seiten mit Mitterrands erster Präsidentschaftskandidatur im Jahr 1965. Über die spätere Entwicklung Frankreichs erfährt der Leser nichts.

Analysen der Gesellschaft, die der sozialistische Präsident geprägt hat, gibt es nicht.

Zu den Auslassungen des Memoirenschreibers gehören die Barrikadenkämpfe des Mai 68, die Politik des Präsidenten Mitterrand, der Aufstieg der rechtsextremen „Front National“, die zahlreichen teils blutigen Geheimdienstaktivitäten während seiner Amtszeit, der Niedergang der französischen Linken und die unablässig steigende Arbeitslosigkeit.

Viel Gewicht gibt Mitterrand statt dessen den deutsch-französischen Beziehungen der letzten Jahre. „Alles begann in Moskau“, lautet der erste Satz in „De l'Allemagne, de la France“, bevor Mitterrand auf 150 Seiten zu belegen versucht, daß er sich vor der Geschichte nicht geirrt habe, daß er den deutsch-deutschen Einigungsprozeß nicht unterschätzt und den Entwicklungen nicht hinterhergelaufen sei. Den an ihn selbst gerichteten Vorwurf gibt er an andere weiter – vor allem an die britische Premierministerin Margaret Thatcher und an den konservativen französischen Expräsidenten Valery Giscard d'Estaing. Seine eigene Position hingegen sei bereits im Sommer 1989 klar gewesen, als er den „Wunsch nach Einheit“ als „legitim“ bezeichnet habe.

Zusammen mit Kohl, den er als „klug und entschlossen“,„sorgfältig im Detail“ und „seinen europäischen Überzeugungen treu“ charakterisiert, will Mitterrand im Zentrum des Einigungsprozesses gestanden haben. Wo Kohl zögerlich war – bei der Beteiligung der Alliierten an der Diskussion über Vertragsgemeinschaft, Föderation oder staatliche Einheit oder bei der Anerkennung der Oder-Neiße- Grenze – will Mitterrand, manchmal mit diplomatischen Tricks, die Entwicklung gelenkt haben. Den eigenartigen Staatsbesuch in der DDR im Dezember 1989 vermögen auch Mitterrands Memoiren nicht aufzuklären. In jenen Tagen will der Präsident niemanden gesprochen haben, der die staatliche Souveränität der DDR aufgeben wollte. Den Slogan „Wir sind ein Volk“ erwähnt er mit keinem Wort.

Mitterrand verfaßte seine Memoiren in einem Wettlauf gegen die Zeit. Statt eines Meisterwerkes hinterließ er Unvollendetes. Dem Absatz des Werkes wird das keinen Abbruch tun. Seit vergangenem Jahr gehen Bücher, die um den ehemaligen Präsidenten kreisen, weg wie warme Semmeln – seien es Enthüllungen politischer Gegner, die gerichtlich verbotenen Veröffentlichungen seines Exleibarztes oder die anonym erschienenen Memoiren seines Hundes Baltique.

Größter Erfolg der Mitterrandomanie sind die Memoiren von Witwe Danielle, die es in wenigen Wochen auf eine halbe Million Auflage brachten. Die einstige First Lady erzählt darin von ihrem Engagement für die Menschenrechte – von Kurdistan über Tibet bis hin nach Kuba – und von ihrem Familienleben mit „François“, das in dessen eigener Biographie mit keiner einzigen Silbe erwähnt ist.

François Mitterrand: „Mémoires interrompus“. 246 S., und: „De l' Allemagne, de la France“. 247 S., Editions Odile Jacob, Paris

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