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Grollende Volksvertreter

■ betr.: „Fallobst“ (Aktuelle Stunde des Bundestages betr. eine An zeige in der Castor-Beilage der taz), taz vom 20. 4. 96

Die öffentliche Schmähung der taz im Deutschen Bundestag hat eindrucksvoll gezeigt, wie es mit Demokratie in unserem Land bestellt ist: Erwünscht ist der „politisch mündige“ Bürger, der nicht zu faul ist, alle vier Jahre sein Kreuzchen zu machen. Wer jedoch den scheinheiligen Spruch „Demokratie lebt vom Mitmachen“ allzu ernst nimmt, der zieht den Groll der Volksvertreter auf sich. Wo kämen wir denn auch hin, wenn Bürger ohne irgendein Mandat die Ärmel hochkrempelten, um zu zeigen, daß sie durchaus „mündig“ und bereit sind, für die Belange von Mensch und Umwelt einzustehen! Konstantin Soemer, Weimar

Herr Geis, ich möchte mich auf ein Zitat von Ihnen beziehen und hierzu Stellung nehmen.

„Jede Minderheit hat die verfassungsmäßige Möglichkeit und das verfassungsmäßige Recht, selbst die Mehrheit zu erringen und auf diese Weise selbst die Regierung zu stellen. Aber sie hat nicht das Recht, mit Gewalt ihre eigene Meinung durchzusetzen und mit Gewalt ihren eigenen Willen anderen aufzuzwingen ...“

Dieses Zitat läßt für mich (von Ihnen so gewollt?!) den Umkehrschluß zu, daß die Mehrheit (die Sie in diesem Fall mit der Regierung gleichsetzen) im Gegensatz zur Minderheit, sehr wohl das Recht hat „mit Gewalt ihre eigene Meinung durchzusetzen und mit Gewalt ihren eigenen Willen anderen aufzuzwingen“. Dieses ist aber wohl kaum der Fall, wie sie freundlicherweise in dem direkt folgenden Satz bestätigen: „Dieses Recht steht niemandem bei uns zu.“ Genau, niemandem, also auch nicht der Regierung, auch keiner wie auch immer gearteten Mehrheit.

Wie uns die Erfahrung des Castor-1-Transportes jedoch lehrt, hat die Regierung, auf dem Rücken Tausender Beamter aus dem gesamten Bundesgebiet wohl genau dieses praktiziert. Sie hat einer vermeintlichen Minderheit (vertreten durch die DemonstrantInnen) mit Hilfe der Exekutive (was in diesem Fall viel bedeutet, mit Hilfe von Gewaltanwendung) ihren eigenen Willen aufgezwungen.

[...] Wir wollen gar nicht darüber diskutieren, ob die parlamentarische Demokratie, wie sie hierzulande praktiziert wird, wirklich eine Mehrheit schaffen kann und ob diese Mehrheit wirklich berechtigt wäre, eine derartige, möglicherweise folgenschwere Entscheidung zu treffen. Auf alle Fälle steht es keiner Mehrheit, wie groß diese auch immer sein mag, zu, über eine Minderheit zu deren eigenem Nachteil, aber zum Vorteil der Mehrheit zu entscheiden. Dieses hebelt jeden demokratischen Grundgedanken aus, einfach weil eine derartige Minderheit immer eine Minderheit bleiben wird – welches Interesse sollte die Mehrheit schließlich haben, auf die eigenen Vorteile zu verzichten, wenn die daraus resultierenden Nachteile einen selber nicht treffen?

[...] Weiterhin reiten Sie in Ihrem Zitat sehr auf der Verfassungsmäßigkeit herum – nur hält sich die Regierung, also die von Ihnen definierte Mehrheit, selbst an diese Vorgaben?

Das GG definiert ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Durch den Transport sowie die Lagerung des Atommülls greift die Regierung bei den Bewohnern eines gewissen Umkreises jedoch massiv in diese Grundrechte ein, indem sie diese Personen einer Gefahr aussetzt, die aus verschiedenen Gründen (zum Beispiel fehlender Langzeiterfahrung) nicht wirklich einschätzbar ist. Die Regierung kann jedoch auch kein höheres Gut als den Schutz des Lebens anführen, mit dessen Hilfe diese Einschränkung der Grundrechte erklärbar wäre.

Wenn jedoch die Regierung (zumindest aus moralischer Sicht) diese Gesetze übertritt, wie kann es Sie dann ernsthaft verwundern, wenn Anwohner, die sich bedroht fühlen, ebenfalls bereit sind, alles zu tun, um diese Gefahr abzuwenden; im Gegenteil, Sie müßten diesen Personen sogar das moralische Recht dazu einräumen, da es sich hierbei quasi um eine Form der Notwehr handelt.

Ob nun die Demontage von Schienen der richtige Weg ist, dieses zu verhindern, darüber läßt sich diskutieren und sicherlich auch streiten – auch ich bin durchaus nicht dieser Meinung. Aber zu meinen, daß allein mit der Diskussion darüber die Grenzen der Pressefreiheit bereits überschritten sind, läßt bei mir den Verdacht aufkeimen, daß Ihnen die Pressefreiheit nicht viel wert sein kann.

Zum Schluß, da ich nicht ernsthaft erwarte Sie mit diesem Brief überzeugt zu haben, nur noch eine letzte Bitte:

Sie und alle anderen Abgeordneten und/oder Mitglieder der Bundesregierung, die diesen „Mehrheitsbeschluß“ mittragen, sollten sich überlegen, ob sie ernsthaft meinen, daß wirklich alle nur möglichen Gefahrenpunkte, die von einem Castor beim Transport und/oder der Lagerung ausgehen könnten, ohne Restrisiko auszuschließen sind. Sollten Sie nicht dieser Meinung sein, so müßten Sie konsequenterweise die Betroffenen, also die Bewohner eines gewissen Umkreises befragen, ob diese gewillt sind, das Restrisiko zu tragen und müßten hier bereits auf den Transport verzichten, wenn eine Minderheit nicht bereit ist, dieses Risiko zu tragen.

Sollten Sie jedoch dieser Meinung sein, so möchte ich Sie bitten, für den Fall, daß wider Ihr Erwarten doch etwas passieren sollte, freiwillig und aus eigenen Stücken mit dem gleichen einzustehen, mit dem schlechtestenfalls auch die Personen, für und über die Sie dann die Entscheidung getroffen haben, einstehen müssen: mit ihrem Leben. Alf Drawert, Braunschweig

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