Der Herr des Hügels

■ Auf dem Rangierbahnhof Alte Süderelbe in Waltershof wacht der Bergmeister über eine drei Meter hohe Bodenwelle. Mit Computer und vor allem Augenmaß Von Stefanie Winter

Der Klang ist der alte geblieben – ein regelmäßiges dumpfes Pochen, dem Reisende eine beruhigende Wirkung nachsagen, ein trockenes Schmirgeln von Metall über Metall, schneidend schrill beim Abbremsen, in Kurven. Bahnhof Alte Süderelbe – auch der Name klingt nach Weh und Ferne, Dampfloks und großem Abschied. Der Klang trügt, die Zeit blieb nicht stehen. Sogar weit voraus sein will man ihr hier.

Im Rangierbahnhof Alte Süder-elbe – dem modernsten Europas, sagen alle, die ihn kennen – werden Güterzüge „aufgelöst“, die aus dem Binnenland eintreffen und Waren für den Hamburger Hafen liefern. Eine Rangierlok drückt sie über einen Ablaufberg, auf dessen Kuppe werden die Wagen abgekoppelt – mal zwei, mal zwölf. Sie laufen dann in eines der 24 Richtungsgleise. Gleisbremsen sorgen dabei für die richtige Geschwindigkeit, Weichen lenken die Wagen in die richtige der Bahnen. Dort werden sie zu Zügen zusammengesetzt, um wieder am Stück zu ihren Empfängern im Hafen zu gelangen. All das steuert ein Computer. Und über den wacht ein Mensch. Der „Bergmeister“ thront im Tower, in 15 Metern Höhe. Vier Männer wechseln sich an der Alten Süderelbe damit ab, in drei Schichten rund um die Uhr.

Einer von ihnen ist Reiner Dumlich, voller Bart, etwas Bauch, Rothändle ohne. Und: Beamter. Im Außendienst der extremeren Art. Früher war er Lokführer und Rangierleiter, hat bei Regen, Eis und Schnee draußen Zug um Zug gearbeitet, so wie seine Kollegen das heute noch machen. Er findet die Lästerei über „die Beamten“ daher weniger nett und läßt bei Dauerfrost die Fenster gern sperrangelweit geöffnet – „Frischluftfanatiker“, erklärt er. An das Beamtentum, wie es im Buche steht, gemahnen lediglich Rudimente: auf dem Schreibtisch ein Blechrondeel für diverse Stempel, die doppelte Buchführung – zur Sicherheit. Nummer, Gattung, geplante und tatsächliche Ankunft der Züge tragen die Bergmeister handschriftlich in eine Liste ein, mit Bleistift – Zahlen, die auch der Computer ver-innerlicht hat. Falls der jedoch ausfallen sollte, vermutet Dumlich, werden die Daten zusätzlich auf Papier gesammelt – gut, alt und geduldig.

Als „typischer“ Beamter also erscheint Dumlich nicht und der Berg, der dem Meister seinen Namen gibt, ist noch nicht einmal ein Hügel. Eine Bodenwelle nur, keine drei Meter hoch, sanft ansteigend und abfallend, die Seiten von senkrechten Mauern begrenzt. Ein Gleis führt darüber hinweg, gabelt sich dahinter in erst zwei, dann in drei und in dreimal acht Gleise. Ganz am Ende, als hätte jemand sie alle einmal um den Finger gewickelt, führt wieder ein einzelnes Gleis aus dem Bahnhof heraus in Richtung Hafen.

Das, was geschieht zwischen Berg und Ausfahrt, soll möglichst immer eines sein: optimal – so schnell es eben geht und dabei fehler- und schadlos. Und wie überall wird auch an der Alten Süderelbe ein Computerprogramm mit der Optimierung durch Berechnung betraut. Das „Hafenbahn-Betriebs- und Informationssystem“ wird HABIS genannt und verknüpft Gewicht, Laufeigenschaften, Roll- und Luftwiderstand eines jeden Wagens mit Informationen über Windrichtung und -geschwindigkeit, Temperatur und Niederschläge. Automatisch wird die Schubgeschwindigkeit für die Lok ermittelt, wird der Druck der Bremsen reguliert, werden die Weichen gestellt.

Früher, erinnert sich Dumlich noch gut, mußte man das Gewicht der Wagen raten und den Rest sachkundig abschätzen. Dann legte man Hemmschuhe – hobelförmige schwere Metallgebilde – vor die Räder der Wagen, um deren Tempo zu drosseln. Das sei auch ganz gut gegangen, meint Dumlich. Und auf den anderen Verschiebebahnhöfen wird das immer noch so gemacht. Ein neuer unerfahrener Kollege habe allerdings schon mal einen „Auflaufschaden“ verursacht. Kollege HABIS bisher nicht. Auch Unstimmigkeiten im Gesamtablauf zeige er zuverlässig an, lobt der Mensch die Maschine. Allerdings gab es neulich trotzdem eine dicke Entgleisung, sagt Dumlich, da sei eine Lok irgendwie übers Signal gerutscht.

Damit HABIS alles erfährt, was es wissen muß, säumen Radarkontrollen ein Stück des Gleisweges, wurde eigens ein winziger Schotter-Hügel installiert, auf dem ein knapper Meter Schiene liegt, Wind und Wetter ausgesetzt und mit dem Mastermind vernetzt. Wenn allerdings Schnee liegt, nützen Radar und Kabel nichts. Schnee bremst, weiß Dumlich, und die Maschine kann es nicht kapieren.

Dann greift eben der Bergmeister korrigierend ein, lockert die Bremsen per Knopfdruck oder läßt vorab eine Lok „Spur fahren“ schieben. „Ein ganz klein wenig“, untertreibt Dumlich zufrieden, „wird der Mensch hier doch noch gebraucht.“ Man müsse eben nur ein bißchen auf Zack sein. Doch wenn viel los sei, habe der Computer schon den besseren Überblick.

Einen Logenplatz besitzt Dumlich; auf dem Spielplan steht ganz Hamburg. Wenn er von der Arbeit ab- und über die A 7 hinwegsieht, bieten sich ihm schöne Aussichten: auf die Kirche von Altenwerder mit dem ewig eingerüsteten Turm, auf die Köhlbrandbrücken-Hafenkran-Silhouette. Im Rücken liegt ein Naturschutzgebiet, gleich nebenan flezen sich riesige Hallen aus Blech – Packstationen –, weitere werden gerade gebaut.

Einen „deutlichen Akzent“ habe man setzen wollen an dieser Schnittstelle, diesem Tor zur Hansestadt und eine moderne Bahn präsentieren, verkündet das Amt für Strom- und Hafenbau. Es ist in aller Deutlichkeit und unter Einsatz von 110 Millionen Mark gelungen. Der Turm aus Glas und Stahl, von weitem eher altmodisch anmutend wie ein Flughafentower in südlichen Ländern, schraubt sich weithin sichtbar neben der Autobahn durch den Abgasdunst.

Eigentlich müßte er gar nicht nach draußen sehen, behauptet der Bergmeister, um zu wissen, was auf seiner „Ranch“ passiert. Auf einem rund drei Quadratmeter großen Stelltisch in seiner Loge ist der Gleisverlauf nachgebildet. Lichter zeigen an, welcher Weg für Lok soundso geplant, welche Weiche gerade besetzt ist. „Jetzt kommt sie da um die Kurve“, deutet der Bergmeister zum Beweis auf einen rot aufleuchtenden Abschnitt am Tisch. „Und jetzt müßte da gleich das Licht angehen“, sagt er nach einem kurzen Dreh zum Fenster, um bestätigt zu sehen, daß es stimmt. Sein Stolz äußert sich norddeutsch, ohne geschwellte Brust. Dumlich kommt aus Cuxhaven und pendelt seit 20 Jahren zu seinen Arbeitsstätten in Maschen, Kiel, Hamburg. Denn in Cuxhaven, erklärt er, gibt es kaum noch was.

Der Stelltisch kostet locker zwei, drei Millionen und ist für ihn nicht nur eine teure, sondern vor allem eine liebe Tradition. Strom- und Hafenbau hält diese Technik, zumindest an der Süderelbe, eigentlich für überholt. Und weil der Rechner seine Aufgaben so prima beherrscht, sollen zukünftig auch keine Lokführer mehr nötig sein. Bislang sitzen sie noch in der Rangierlok, die die Züge über den Berg schiebt. Die optimale Geschwindigkeit für die Lok, vom Computer errechnet, könne ein Mensch nicht so exakt umsetzen. Das bestätigt auch Dumlich. Und wünscht sich, daß die Lokführer bleiben. Und er den Stelltisch behalten kann.

Denn den ganzen Tag auf die dann erforderlichen drei Bildschirme zu starren, meint er, das sei nicht jedermanns Sache. „Für die Leute“, meint er, „ist das früher schon besser gewesen.“ Da gab es Arbeit für viele. Und für ihn, mit Computer statt Frischluft? „Je älter man ist, desto ruhiger muß der Arbeitsplatz sein, sag' ich immer.“

Der Tag des Bergmeisters hat acht Stunden, früh, spät oder nachts. Kontakt zu Kollegen hält er fast ausschließlich per Funk oder Telefon. Manchmal, vor allem während der Spätschicht, ist das zu ruhig selbst für Dumlichs Geschmack. Sogar der Rechner steht in einem abgeteilten klimatisierten Raum. Aber so eine Klimaanlage, meint Dumlich, sei für ihn persönlich auch nichts. Die Jalousien nutzt er hingegen häufig, damit er trotz Sonnenlichts noch die Leuchtanzeigen auf dem Stelltisch erkennen kann. Allerdings seien die Dinger falsch angebracht – zu niedrig.

Bewegt werden sie per Hand, mit Plastikschnüren. Und sie hakeln dabei ein bißchen.