: Eine Zukunft namens Oscar
Cartagena, Traum der Karibik. Für den Besitzer des Hotel Viena in der berühmten Stadt an Kolumbiens Atlantikküste sind Touristen Mittel zum Zweck. Und der heißt „Programa Oscar“, eine Zukunft für Straßenkinder ■ Von Henk Raijer
„Lydia... Lydia.“ Aschgraue Finger umklammern die von der Nacht noch kalten Stäbe. Wie jeden Morgen schält Johnny seinen Körper aus einem Pappkarton heraus und preßt das alte Kindergesicht an die vergitterte Eingangstür. Der kleine Kerl in seinem zerschundenen Hemd späht durch die Verstrebungen in den Patio – wie immer auf der Suche nach der Seele des Viena. „Lydia, gib mir ein Brot. Aber eins mit Marmelade, hörst du.“
Allmorgendliches Ritual in der Calle San Andrés. Johnny braucht erst gar nicht lang zu betteln, der Junge weiß, daß er im Hotel Viena immer was zu essen bekommt; „Gamines“ haben bei Lydia de Greve, Geschäftsführerin der Budgetbleibe im Zentrum Cartagenas, ein Stein im Brett. Die Belgierin, Mitte 40, sperrt die Tür auf, läßt den lauen Wind der Karibik, das Knattern der Mopeds und den Salsa des Viertels hinein. „Du kannst reinkommen und dir die Reste vom Abendessen nehmen“, bedeutet sie dem Straßenjungen freundlich. „Aber du kennst die Spielregeln, Johnny, die Cauchola bleibt draußen.“ Johnny grinst, kramt die Flasche mit Klebstoff unter seinem Hemd hervor und stellt sie am Eingang ab. „Paß auf meine Vitamine auf“, warnt er seinen Kumpel und schleicht an der Rezeption vorbei in den Innenraum, der gerade in frühes Sonnenlicht getränkt wird.
Was das Viena von anderen Hotels der 700.000-Einwohner-Stadt an Kolumbiens Atlantikküste unterscheidet, sind zunächst einmal die großformatigen Kinderfotos an den Wänden und die Infoblättchen im Aufenthaltsraum. Sie machen neugierig, und genau das ist auch der Sinn der Sache. Die meist jugendlichen Reisenden aus aller Welt sind Mittel zum Zweck, und dieser Zweck heißt: „Programa Oscar“, eine Zukunft für die Straßenkinder Cartagenas.
Besitzer des Viena und Initiator von „Programa Oscar“ ist der Belgier Patrick Vercoutere, noch vor wenigen Jahren ein erfolgreicher Bauunternehmer in seiner flämischen Heimat. Der heute 34jährige, der selbst einen Großteil seiner Jugend in Heimen verbrachte, mietete das Hotel 1993 mit dem Ziel, Parias wie Johnny ein Zuhause zu geben. „Das Hotel diente von Anfang an als Anlaufstelle“, erklärt Vercoutere, „bei uns können die Gamines duschen und bekommen was zu essen. Außerdem lernen sie durch den Kontakt mit uns und den Gästen, daß es auch Erwachsene gibt, denen man trauen kann.“
Gelegenheit dazu gibt es reichlich. Am großen Holztisch im Patio ist ständig „Reunión“, Versammlung. Hier tauschen Traveler aus Kanada, Argentinien, England und Holland die immer gleichen Geheimtips aus, verbessern ihre Spanischkenntnisse, flirten. Dazwischen immer wieder Kinder und Jugendliche: die einen lebendig und wohlgenährt, andere eher abgerissen, mit Blick auf unendlich. An diesem Morgen ist Barbara Brune eingetroffen. Die Diplompädagogin aus Deutschland wird ihren Jahresurlaub im Projekt verbringen. Sie ist eine der internationalen Koordinatoren, die im Anschluß an ihren ersten Aufenthalt in Cartagena „Oscar“-Unterstützungskomitees gegründet haben, daheim Diavorträge halten und Geld für die Arbeit in Cartagena auftreiben.
„6.500 Mark habe ich mitgebracht“, erzählt sie zufrieden, während sie am Herd einen Tinto, schwarzen kolumbianischen Kaffee mit Zimt, ansetzt. „Das meiste stammt aus privaten Spenden und dem Erlös unseres Weihnachtsbasars.“ Außerdem habe sie Bettzeug, Handtücher, Desinfektionsmittel, Verbandszeug und Bleistifte im Gepäck, „alles Sachen, die dem Projekt sonst zusätzliche Kosten verursachen“, sagt die 30jährige, die in der Runde Schwarzer und Gebräunter noch winterlich blaß wirkt.
Die Ausgaben des Projekts, etwa für Mieten, Versicherungen, Nahrung, Kleidung, Transport und Schule übersteigen mit umgerechnet 100.000 Mark im Jahr die Einnahmen glatt um die Hälfte. Das Geld reicht nie, denn „Programa Oscar“ ist längst mehr als das Hotel. Zum Projekt gehören nach fast drei Jahren intensiver Straßenarbeit und Hickhack mit den Behörden das „Hogar Oscar“ im 20 Kilometer entfernten Turbaco, eine kleine Wohnung ebenda und die Finca „Luna Luz“, ein Stück Land mit einer bescheidenen Hütte abseits der Zivilisation, wo ganz schwere Fälle erst mal auf Entzug gehen können.
Sonntags ist „Reunión“ auf der Terrasse von „Oscars Zuhause“, einer rosafarbenen Villa in schmuckem Kolonialstil. Federvieh stolziert im Garten umher, Hunde fläzen sich im Schatten zweier Bougainvillea-Sträucher. Die Bande ist vollständig angetreten: 15 Jungs und ein Mädchen im Alter zwischen 7 und 15 Jahren sitzen, hängen oder liegen auf der Balustrade, hören aber konzentriert zu, was „El Jefe“ mit ihnen zu besprechen hat.
Auf der Tagesordnung stehen Gonzalez Probleme mit der Schule und Pablos Ärger mit den Nachbarn. Christina hat seit einer Woche ihre Sachen nicht gewaschen, wer hat den Fernseher demoliert. Lob wird freudig aufgenommen, bei Kritik gibt's bedrückte Gesichter. Familie heißt das Zauberwort, das der Belgier und seine Mitarbeiter immer wieder in die Runde werfen. „Wir geben ihnen die Wärme einer intakten Familie, schicken sie zur Schule, zahlen den Sportverein. Trotzdem behandeln wir sie nicht wie normale Kinder ihres Alters, dafür haben sie zuviel erlebt“, erläutert Vercoutere. „Was wir allerdings erwarten, ist, daß sie mit anpacken im Haus, daß sie Verantwortung für einander übernehmen. Schließlich haben sie auf der Straße bewiesen, daß sie lebenstüchtig sind.“ Leider reagiere immer noch manch einer auf Einschränkungen seiner Freiheit mit Trotz und kehre auf die Straße zurück. Ein Schicksal, das Zehntausende in Kolumbien teilen, allein in der Hauptstadt Bogota gibt es schätzungsweise 15.000 Gamines.
Hogar Oscar verheißt eine Chance, Vercouteres Ziel aber ist die Rückführung in die Familie. Schwierig genug, denn die wenigsten der etwa 200 Straßenkinder Cartagenas sind von hier. „Auch wenn Hogar Oscar einer kleinen Anzahl von ihnen womöglich bessere Startbedingungen bietet, der Kontakt zur Mutter ist und bleibt wichtig, wie kostspielig auch immer der sein mag“, so sein Credo.
Zweimal im Jahr dürfen die „Oscars“ mit Vercoutere auf „Heimaturlaub“ nach Medellin, von wo die meisten seiner Schützlinge stammen. Doch einige wollen davon gar nichts wissen, zu traumatisch waren die Erfahrungen ihrer frühen Kindheit: Drogen, Prostitution, Mord und Todschlag. „Viele haben ja einfach die Familientradition fortgesetzt“, so Vercoutere, „schon ihre Mütter waren Straßenkinder.“ Gerade diese Kinder könnten häufig kaum glauben, daß sie noch eine Zukunft haben. „Einer wie unser Pablo etwa, der ist schon aus zehn Heimen abgehauen, ist auch in Hogar Oscar schon das dritte Mal. Ein viertes Mal wird es für ihn nicht geben.“
Ein bitteres Resümee. Aber es hält den engagierten Belgier nicht davon ab, weiterhin Straßenarbeit zu machen. Und er hat Unterstützung, wenn auch nicht von kolumbianischer Seite, die wirft ihm eher Knüppel zwischen die Beine. Jana Olsen zieht seit einigen Monaten jeden Nachmittag um zwei mit einem Packen Lehrmaterial in den Parque Marina, wo sie inzwischen stets von einem Dutzend Straßenkinder freudig begrüßt wird. An diesem Tag jedoch ist die schattige Anlage am Hafen wie leergefegt: Cartagenas Innenstadt ist von Militärpolizei umstellt, im „Centro de Convenciones“ beraten die Wirtschaftsminister der Länder der südamerikanischen Zollunion.
Für das Regiment Simon Bolivar bedeutet der Mercosur-Gipfel Sicherheitsstufe eins, für Jana Olsens Kinder Angst. „Man weiß nie vorher, wie der Unterricht laufen wird“, sagt die 35jährige Norwegerin. „Ständig passiert was, die Polizei vertreibt die Kids, oder es kommt zu Schlägereien. Manchmal läßt der Bürgermeister die Kinder kurzerhand einsammeln und karrt sie mit Lkws vor die Stadt.“
Nach einer Weile schleichen sich Julian, Maurizio und seine Freunde heran. Die Soldaten, selbst kaum 20 Jahre alt, bemühen sich um Strenge. „Ich weiß, letztlich ist unsere Gesellschaft das Problem“, räumt einer der Militärs ein. „Daher ist es gut, daß sich wenigstens ein paar Ausländer um die Gamines kümmern, unsere Regierung versagt da völlig. Aber wenn sie uns befehlen, jagt sie aus der Stadt, dann tun wir das.“
Die Atmosphäre ist geladen, doch die resolute Pädagogin packt die Bücher aus und setzt sich mit drei, vier Jungs auf den Rasen. „Ich kann schon viel besser lesen als Andrés“, kräht der 14jährige Julian, greift nach dem Bilderbuch „Pedro y el cocodrilo“ und kämpft sich mit der Hingabe eines ABC- Schützen durch die Zeilen.Nur ein paar Seiten, und der Junge mit dem Körper eines 11- und dem Gesicht eines 20jährigen hat die Polizisten und sein armseliges bißchen Leben vergessen. So lebenstüchtig er und seine Kumpels auf den Straßen Cartagenas sind – in Jana Olsens „Klasse“ sind sie das, was sie sind: Kinder. Selbstvergessen hockt Julian in dem Lärm, der ihn umgibt, und streift mit schwarzgeränderten Fingerspitzen an den Buchstaben entlang. Im Ausschnitt seines T-Shirts baumelt die Flasche – Hilfe gegen Hunger und Einsamkeit. Ob er nicht gerne ins Hogar Oscar ziehen und mit den Jungs dort in eine Schule gehen würde? „Zu Patrick?“ Julian kratzt sich am Kopf – und ist wieder ganz Casco amarillo. „Da müßte ich ja machen, was die mir sagen. Und meine Flasche abgeben...“
In der Calle San Andrés kehrt mit der Dämmerung keine Ruhe ein: Aus Kleinbussen und Hauseingängen schmettert hemmungslos in die Gasse, was immer die Boxen hergeben. Männer rücken draußen ihre Hocker näher zusammen und trinken Bier, Frauen entspannen im Schaukelstuhl auf dem Balkon. Vor dem Hotel Viena drängen sich die Taxen, an der Rezeption ist Hochbetrieb. In zwei Tagen beginnt das berühmte Festival karibischer Musik, das möchte kein Traveler sich entgehen lassen.
Patrick Vercoutere soll's recht sein. Er lehnt am Gitter, wie stets in wadenlangen Shorts und nie ohne sein Aktenköfferchen. Nachdenklich betrachtet er Johnny, der die Neuankömmlinge um 100 Pesos angeht. „Mit fünf ist der von zu Hause fort“, sagt Vercoutere. „Seine Mutter ist Prostituierte, der Vater unbekannt, Geschwister hat er keine.“ Johnny, der aussieht wie 11, selbst aber sagt, er sei 12, werde bald 16. „Der hat schon alle Drogen ausprobiert, die es gibt auf der Welt. Er bettelt und geht auf den Strich, wenn es sein muß.“ Auch Johnny setze eine Tradition fort, so der Mann, der „Programa Oscar“ in absehbarer Zeit in kolumbianische Hände geben möchte. „Was wir versuchen ist, diesen Kreislauf zu durchbrechen.“
Auskünfte über Projekt und Spendenkonto gibt der Verein „Straßenkind Oscar e. V.“, c/o Barbara Brune, Im Obernholz 73, 32051 Herford; Tel.: 05221-31292.
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